
Queer Gothic, Female Gothic: Der Schauerroman als düstere Gesellschaftskritik
Lange Zeit hatte „the Gothic“, der Schauerroman, nicht den besten Stand im Kontext zur Literaturwelt. Melodramatisch, unglaubwürdig, zu opulent, anzutreffen als Heftroman am Kiosk. Bis heute wird das Genre zumindest im deutschsprachigen Raum nicht ganz für voll genommen, während „the gothic“ auf dem englischen Markt, vor allem in Großbritannien, eine lange Tradition hat und in den letzten Jahren erneut eine Art Revival durchlebt, angeführt von Autorinnen wie Laura Purcell, Michelle Paver oder Anna Mazzola. Auch der US-Markt erlebt ein Gothic Revival mit Titeln wie „Catherine House“ von Elisabeth Thomas oder „Plain Bad Heroines“ von Emily M. Danforth.
Letzten September haben wir den Start der unheimlichen Jahreszeit mit einem Abriss zur Entwicklung des Horrorgenres gefeiert. Dieses Jahr möchte ich noch ein Stück tiefer greifen. Denn wenn dem Genre eines seit seiner Anfangszeit im 18. Jahrhundert in den Knochen steckt, dann ist es seine Tendenz transgressiv mit literarischen und gesellschaftlichen Konventionen zu brechen. Der Schauerroman überschreitet Grenzen und bietet so seit über 250 Jahren ein Sprachrohr für marginalisierte und auf andere Weise gesellschaftlich ausgegrenzte Autor_innen. Zwei Strömungen kristallisieren sich hier von Anbeginn des Genres heraus: Queer Gothic und Female Gothic.
Strawberry Hill: Die Geburtsstunde des Gothic

Als „Erfinder“ des Gothic gilt der britische Adelige, Politiker, Autor, Historiker und Altertumsforscher Horace Walpole, der im Jahr 1764 mit seinem Roman „Das Schloss von Otranto“ beinahe im Alleingang das Genre begründete. Die Versatzstücke, aus denen Walpole seinen Gruselroman erstellte und die im Genre bis heute als beliebte Archetypen erhalten sind, ergeben im Kontext zu seiner Biografie und seinen Interessen Sinn: Als Historiker und Altertumsforscher interessierte Walpole sich sehr für das Mittelalter und für gotische Architektur. Als früher Vertreter des „Gothic Revivals“ ließ er ab 1749 das neogotische Herrenhaus Strawberry Hill vor den Toren Londons errichten. Hier suchte ihn ein absurder Albtraum heim, dessen Bildsymbolik ihn nicht losließ – und dazu veranlasste, einen Gruselroman zu schreiben: „Das Schloss von Otranto“.
Walpoles Roman ist düster-romantisch, aber auch geprägt von Walpoles Hang zum Melodramatischen: Im mittelalterlichen Italien herrscht der Tyrann Manfred, basierend auf Manfred von Sizilien (1232 – 1266), über seine Burg. Als sein Sohn Conrad von einem riesigen, vom Himmel fallenden Helm erschlagen wird, will Manfred selbst dessen Braut Isabella heiraten. Mit der Hilfe des Bauern Theodore muss Isabella nicht nur Manfred entkommen, sondern auch den geisterhaften Erscheinungen im Schloss von Otranto. Walpole verband die oft abstrusen, phantastischen mittelalterlichen Geistergeschichten, die ihn bei seinen Recherchen so faszinierten, gekonnt mit den eher nüchternen, realistischen Geschichten seiner Epoche und schuf den ersten Horrorroman, der das Genre nachhaltig beeinflusste.
Horace Walpole und seine Texte sind aus dem Kontext queerer Kultur und Community des Englands der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht herauszulösen. Walpole selbst galt als schillernder Exzentriker, dessen als delikat und feminin wahrgenommenes Auftreten ihn in der britischen Oberschicht der Epoche oft anecken ließ. Zu seinem engsten Freundeskreis gehören unter anderem der queere Gelehrte und Dichter Thomas Gray und die lesbische Bildhauerin Anne Seymour Damer. Seinen Cousin Henry Seymour Conway beschreibt George E. Haggerty als Liebe Walpoles‘ Lebens und beschreibt eine tiefe queerplatonische Bindung zwischen „Harry“ und „Horry“, wie sie sich gegenseitig riefen.
Queer Gothic: Gesellschaft und Grusel
Walpoles Kreis aus oft queeren Künstler_innen, die in Strawberry Hill zusammenkamen, wurde als im modernsten Sinne „camp“ wahrgenommen und kann sicherlich als eine Art Community, eine Art Counter Culture zu den Werten und Normen ihrer Gesellschaft verstanden werden. Da moderne Konzepte von LGBTIA+-Identität sich nicht zwingend mit historischen decken, ist es oft schwer und auch nicht zielführend, historischen Persönlichkeiten moderne Labels zuzuweisen. Doch dass auch Horace Walpole selbst im allgemeinsten Sinne des Begriffs queer war, allein schon in seinem für die Epoche untypischen Männlichkeitsbild, ist kaum von der Hand zu weisen und von „Das Schloss von Otranto“ und dem Gothic-Genre als Ganzes nicht zu lösen: Walpole erschafft „the gothic“ als schaurig-schönes, von seinem Interesse an Antike und Mittelalter geprägtes Märchenland.
Bald darauf wird das Genre zur Bühne für alles Subversive, Transgressive, unter anderem und vor allem für queere Stimmen. Wie kein zweites Genre des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erlaubt „the gothic“, verborgen hinter Grusel, Horror und manchmal sogar Gore, eine kritische Auseinandersetzung mit Geschlechts- und Sexualitätsbildern der Epoche. 1796 schockierte der erst knapp 20-jährige Brite Matthew Gregory Lewis mit seinem Roman „Der Mönch“, in dem er unter anderem die blutigen Schrecken der Französischen Revolution verarbeitete, aber sich auch mit der eigenen Queerness und der gesellschaftlichen Rezeption dieser auseinandersetzte. Lewis, der durch den großen Erfolg seines Romans bald selbst als „Monk Lewis“ bekannt wurde, nutzte ganz bewusst dieselbe Formel wie „Das Schloss von Otranto“, trieb die Darstellungen von Gewalt und absurden Verstrickungen jedoch auf neue Höhen.
Der Zusammenhang zwischen queerem (Sub)-Text in frühen britischen Gothic Novels und der drakonischen systematischen Gewalt, die LGBTIA+-Menschen im Großbritannien der Epoche erfuhren, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Ganz besonders in der Mitte des 18. Jahrhunderts steigert sich diese Gewalt zu einer Welle politischer Verfolgung von spezifisch queeren Männern, deren Nachwehen über ein ganzes Jahrhundert nachklingen. In „Der Mönch“ vermengen sich Wut über und Angst vor den sehr strengen queerfeindlichen Gesetzen der Epoche sehr eindeutig mit dem kollektiven europäischen Trauma der Französischen Revolution, doch auch an Horace Walpole und seinen Freund_innen, sowie vielen anderen Gothic-Autor_innen der Epoche wird die Gewaltwelle gegen queere Menschen nicht vorbeigegangen sein. Nicht umsonst wird Strawberry Hill als märchenhafter Rückzugsort interpretiert.
Auch im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wird Gothic immer wieder zum Sprachrohr queerer Autor*innen oder einer Auseinandersetzung mit Sexualität und Gender. 1872 erscheint „Carmilla“, die sapphische Vampirerzählung des irischen Autors Sheridan Le Fanu, das unter anderem als großer Einfluss auf Bram Stokers „Dracula“ (1897) gewertet wird. Bram Stoker verarbeitet in „Dracula“ unter anderem auch seine oft schwierige Auseinandersetzung mit der eigenen Queerness. Beide Vampirromane sind zudem inspiriert von John Polidoris „Der Vampir“ (1819), das ebenfalls bereits eine Auseinandersetzung mit queerer Sexualität beinhaltet. 1891 erscheint „Das Bildnis des Dorian Gray“, Oscar Wildes einziger Roman. Der schillernde Wilde, ein guter Freund Bram Stokers, wird nur wenige Jahre später aufgrund der eigenen Queerness in einem großen Schauprozess verurteilt, als Beweisstück wird neben seinen Briefen an Bosie Douglas auch sein Gothic-Roman, der „Dorian Gray“, herangezogen. Daraufhin verlassen viele queere Menschen fluchtartig Großbritannien.
Female Gothic: Der weibliche Blick auf das Genre
„Oh! Es ist nur ein Roman!“, antwortet die junge Dame, während sie ihr Buch mit gespielter Gleichgültigkeit oder kurzzeitiger Scham weglegt. „Es ist nur Cecilia, oder Camilla, oder Belinda*“; oder, kurzgesagt, nur irgendein Werk, in dem die größten Kräfte des Verstands zur Schau gestellt sind.
Aus „Northanger Abbey“ (1817), Jane Austen
Hier sollten wir jedoch noch einmal einen Gang zurückschalten und ins späte 18. Jahrhundert zurückkehren, als Gothic endgültig ein Sprachrohr für marginalisierte Autor_innen und andere unterdrückte Menschen wurde, besonders auch für Frauen. Autorinnen wie Anne Radcliffe oder in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Brontë-Schwestern nutzen das Genre um über ihren Lebensalltag als Frauen in patriarchalen Gesellschaften zu schreiben. Hier gibt es seltener Geistererscheinungen oder andere übernatürliche Geschehnisse, die gruseln. Meist sind es die ungleichen Machtverhältnisse und die von der Gesellschaft ausgehende Gewalt, sowie einschränkende Geschlechterrollen, die im Female Gothic als düstere Last spuken. Im weiblichen Schauerroman heißt die treibende antagonistische Kraft „Trauma“.
Das wohl bekannteste Beispiel ist „Jane Eyre“ (1847) der britischen Autorin Charlotte Brontë, das den bis heute sehr beliebten Archetypus der jungen Frau, die in einem unheimlichen Herrenhaus in die Machtspiele eines ihr sozial überlegenen Mannes gerät, zwar nicht begründet, aber maßgeblich formt. Ihre Schwester Emily veröffentlicht im selben Jahr die bis heute kontrovers diskutierte „Sturmhöhe“, in der menschliche Abgründe, einschränkende soziale Unterschiede und die Folgen von Gewalt und Trauma einen Kreislauf von Gewalt starten, der kaum zu durchbrechen ist, inszeniert vor der düsteren Kulisse der Yorkshire-Moore im späten 18. Jahrhundert. Es ist Machtlosigkeit, die im „Female Gothic“ im Mittelpunkt steht und die sich in unheimlichen Szenarien äußert.
Das Konzept des „Female Gothic“ stammt von der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Ellen Moers, die es erstmals 1976 in ihrem Buch „Literary Women“ so betitelte. Heute wird das Konzept durchaus zurecht kritisch betrachtet, denn eine (proto)-feministische Grundhaltung lässt sich den meisten Gothicautorinnen des 18. und 19. Jahrhunderts nicht zuschreiben. Interessant ist viel eher ihre Verarbeitung der alltäglichen Problematiken und Sorgen des Lebensalltags von Frauen in diesen Epochen und ihre Überspitzung zu Grusel- und Horror-Tropes. Das Gothic-Genre lässt Autor_innen und ihre Leser_innen zumindest auf der literarischen Ebene aus den Geschlechtsrollen und -normen ihrer Epoche ausbrechen und erlaubt Transgressionen. Nicht umsonst ist die junge Frau aus der Stadt, die in der unberührten, oft unheimlichen natürlichen Landschaft alle Konventionen abschüttelt, bis heute ein so beliebter Gothic-Archetypus.
Gothic heute: Zusammenfassung und Ausblick
Natürlich ist nicht jeder Schauerroman des 18. und 19. Jahrhunderts im Kern eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit Gewalt, Geschlechterrollen oder dem Leben in einer patriarchalischen Gesellschaft. Bald nach dem Erfolg von „Das Schloss von Otranto“ gewann der Schauerroman auch als reiner Unterhaltungs- und Groschenroman an Beliebtheit. Trotzdem ist das Genre von seiner Geschichte als Medium für Gesellschaftskritik und marginalisierte Stimmen nicht zu trennen. Besonders im englischsprachigen Raum findet sich dieser Aspekt auch im modernen Gothicroman nach wie vor wie in keinem zweiten Genre. In „Mexican Gothic“ arbeitet Silvia Moreno-Garcia die gewaltvolle Geschichte des britischen Kolonialismus in Mexiko zum Beispiel als atmosphärische Spukhausgeschichte auf. Kalynn Bayrons Gothic-Heldin in „This Poison Heart“ ist eine queere, Schwarze Frau.
Das Transgressive, Gesellschaftskritische ist also damals und heute kein zufälliges Nebenprodukt des Gothic- und Horrorgenres, sondern am Ende sein Ursprung und in weiten Teilen auch der Ursprung seiner Faszination: Denn eine Geistergeschichte für sich ist schön und gut, aber eine Geistergeschichte, in der die dunklen Seiten unserer Gesellschaft, unserer Geschichte und unserer Psyche aufgezeigt werden, ist wirklich unheimlich. Gothic, als literarisches Genre und als Baustil, war von Anfang an Counter Culture: Die Dunkle Romantik gegen die nüchterne Aufklärung, das melodramatische, neogotische Strawberry Hill gegen schlichten Klassizismus. Und auch auf der Textebene steht von „Das Schloss von Otranto“ über die „Sturmhöhe“ bis hin zu „Dracula“ und „Das Bildnis des Dorian Gray“ immer auch eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Schattenseiten und Ängsten im Vordergrund.
Natürlich kann das Genre auch einfach so unterhalten: Unheimliche alte Häuser, Geistererscheinungen und düstere Landschaften sind gruselig, auch ohne Kontext zu sehr realen Ängsten und Bedrohungen. Doch aus seinem Ursprung als Counter Culture, Gesellschaftskritik, aber auch Eskapismus aus der düsteren Realität sind der Schauerroman und seine Schlüsselwerke nicht zu lösen.
* Meint die Romane „Cecilia“ und „Camilla“ von Frances Burney, sowie „Belinda“ von Maria Edgeworth
In diesem Beitrag steckt viel Arbeit, Zeit und Recherche. Falls er dir bei deinen eigenen Recherchen weitergeholfen hat, würde ich mich über eine Nennung als Quelle freuen.
Quellen und Weiterführendes:
Haggerty, George E.: Queer Gothic. 2006.
Haggerty, George E.: Queering Horace Walpole. In: Studies in English Literature, 1500-1900. Vol. 46, Nr. 3. 2006. S. 543 – 562.
Hultgren, Neil: Queer Others in Victorian Gothic. Transgressing Monstrosity. In: The Wilkie Collins Journal, Vol. 12. 2013.
Showalter, Elaine: Dr. Jekyll’s Closet. In: Haas, Smith [Hg.]: The Haunted Mind. The Supernatural in Victorian Literature. 1999.
Wallace, Diana: Female Gothic Histories. Gender, Histories and the Gothic. 2013.
Beitragsbild: „Romantic Novel“, Santiago Rusiñol, 1894