
„Damals war alles besser“: Sehnsucht und 1950er-Nostalgie im historischen Roman
Bestimmt ist nicht nur mir aufgefallen, dass sich der historische Roman in den letzten Monaten auf eine Epoche festgefahren hat. Während sich der englischsprachige Buchmarkt im Moment viel mit dem zweiten Weltkrieg befasst, ist auf dem deutschsprachigen Buchmarkt eher die Nachkriegszeit in den Fokus gerückt: Ich habe schon in meinem Essay zu Familiensagas angesprochen, dass die meisten historischen Romane mittlerweile im 20. Jahrhundert spielen. Die späten 1940er und 1950er sind dabei besonders oft vertreten und handeln von Wiederaufbau, wirtschaftlichem Aufschwung und neuen Chancen und Freiheiten nach den Kriegsjahren: Der Nachkriegsboom – in Deutschland oft auch als Wirtschaftswunder bezeichnet – steht im Mittelpunkt.
Auffällig ist dabei vor allem, dass ein großer Teil dieser Romane diese Zeit durch die sprichwörtliche rosarote Brille betrachtet, was schon an den Titeln ersichtlich wird: „Als das Leben wieder schön wurde“, „Glückskinder“, „Die Wunderfrauen“ und „Und die Welt war jung“, um nur ein paar aktuelle Beispiele zu nennen. (Dies ist keine inhaltliche Bewertung der Romane, die ich noch nicht gelesen habe, bloß ein Kommentar zur Trendrichtung der Titel). Auf den Covern lachen einem junge weiße Frauen im vagen Vintage-Look entgegen, roter Lippenstift und pastellfarbene Swingkleider. Die Realitäten des zweiten Weltkriegs, der nur ein paar Jahre zurückliegt, werden oft nur schwammig erwähnt, während soziale Ungerechtigkeiten der Epoche meist mit etwas Feel-Good-Feminismus überkommen werden. Wichtig sind die Erfolgs- und Liebesgeschichten junger Unternehmerinnen, von denen diese Romane erzählen.
„Damals“: Zwischen Kino und Vergangenheit
Diese oft romantisierte Darstellung dieser Epoche, die sich beinahe schon mit dem berühmten Spruch „Damals war alles besser“ zusammenfassen lässt, ist an sich kein neues Phänomen, sondern eher ein Wiederentdecktes, das in Deutschland Tradition hat: Nicht umsonst erinnern diese Romane stark an die „Heile Welt“-Filme der tatsächlichen Nachkriegszeit, die – natürlich – als Eskapismus nach dem zweiten Weltkrieg gedacht waren und die Menschen in den 1950er und 1960er Jahren ins Kino lockten, weil sie eine Welt ohne Krieg, Trauma und Sorgen zeigten: Schöne Landschaften, beliebte Reiseziele wie Italien und Frankreich oder das geschmackvoll eingerichtete Eigenheim als Kulisse standen im Kontrast zu immer noch in Trümmern liegenden Großstädten.
Diese Filme bauen oft auf demselben „whimsy“, auf derselben Idee von einer heilen Welt, wie es moderne historische Romane auch tun: Es geht um kleine Konflikte innerhalb eigentlich liebevoller Familien, um das „schöne Leben“, um große romantische Liebesgeschichten und tatsächlich auch oft um die neue Rolle der Frau in der Gesellschaft der Nachkriegszeit: Das stark von traditionellen und neuen Geschlechterrollen geprägte Konzept „Männer gegen Frauen“ trifft man in Filmen aus den 1950er Jahren zwar deutlich öfter an als im modernen Historienroman, aber die leichte Prise Feminismus, bei dem die Heldin sich ihrer Gesellschaft widersetzt um einen Beruf zu ergreifen oder ihr Unternehmen erfolgreich zu führen, geht in eine ganz ähnliche Richtung.
Beides – Der deutsche Film der Nachkriegszeit und der deutsche Historienroman des 21. Jahrhunderts – hat viel mit Sehnsucht zu tun, jedoch auf unterschiedliche Weise. Der „Heile Welt“-Film der Nachkriegszeit spielt mit den Wünschen einer Generation, die zwei Weltkriege durchlebt hat und aus ihrem von den Konsequenzen gezeichneten Alltag flüchten will: Schlagerhits zum Mitsingen, Feel Good, sonnige Settings und harmonische Geschichten statt des Lebens mit dem Kriegstrauma, kaputten Städten und vor allem auch der Aufarbeitung der NS-Zeit und der eigenen Rolle in diesem Regime. Der historische Roman des Jahres 2021 hingegen lebt von seiner rosaroten Nostalgie: Damals war alles besser. Und dieses „damals“ legt man sich ganz ähnlich aus, wie die Heimatfilme und Komödien der 1950er Jahre sich eine bessere, niemals real existierende Gegenwart herbeiwünschten.
Vintage Values: Die problematischen Seiten von Nostalgie
Das ergibt an sich auch Sinn: Wir leben in unruhigen Zeiten und viele Menschen wünschen sich auch jetzt Eskapismus. Eine verklärte, romantisierte Vergangenheit, die noch nicht so lang her ist, dass man sie nicht mehr berühren kann, war dafür schon immer gut geeignet. Nicht umsonst wurde das späte 19. Jahrhundert nach Ausbruch des ersten Weltkriegs als „Belle Époque“, als die schöne Epoche, romantisiert, nicht umsonst schaut der historische Roman jetzt auf die Wirtschaftswunderjahre als Zeit des Aufschwungs und des bunten Lebens zurück. 1950er-Nostalgie ohne kritische Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Epoche ist schließlich auch nichts Neues. Neu in dem Sinne ist der „Trend“ in Richtung der Epoche im deutschsprachigen Historienroman und vor allem der Hype, der im Moment zu immer neuen ähnlichen Titeln führt.
Nostalgie ist an sich nichts Schlimmes: Im Moment wächst zum Beispiel auf Youtube die Costube-Gemeinde stetig an. Das sind Youtuber, die nicht nur Geschichte erklären, sondern oft historische Kleidung nachnähen oder selbst Vintage tragen. Aus dieser Community stammt auch das Prinzip „Vintage style, not vintage values“: Altmodische Ästhetik, aber ohne die Moralvorstellungen der jeweiligen Epoche. Genau diese Trennung erfolgt im Historienroman im Moment leider nicht, denn nicht selten werden rassistische, antisemitische oder auch LGBTIA+-feindliche Weltbilder und Klischees komplett unkritisch übernommen, verteidigt mit dem Argument „Ich wollte zeigen, wie es damals eben war„. Das passiert meist ohne die dringend nötige Reflexion dieser Weltbilder, sodass kein Anprangern von -ismen passieren kann, sondern nur Reproduktion.
Hinzu kommt oft eine regelrechte Verharmlosung des NS-Regimes und vor allem auch des Holocausts: Meist setzen die Romane in den späten 1940ern ein und erzählen nur sehr schwammig von der Rolle, die die deutschen Unternehmerfamilien, um die sich die Geschichte dreht, im NS gespielt haben. Eine Auseinandersetzung mit eigener Schuld, mit Mitläufertum oder mit eigenem Profit aus Verfolgung und Genozid geschieht selten. Stattdessen werden die Held*innen oft sogar in die Opferrolle gesteckt, denn es wird nur darauf eingegangen, welche Verluste der Krieg für sie bedeutet hat, nicht welche Rolle sie vor dem Krieg gespielt haben oder ob und wie sie selbst Leid verursacht haben. Opfer und Überlebende des Holocausts werden oft unsichtbar gemacht und kommen einfach nicht vor. Stattdessen heißt es nicht selten: „Wir wussten von nichts“.
Die gute alte Zeit: Unterdrückung verkleidet als „historische Korrektheit“
Am Ende ist das neue „schöne Leben“ in den 1950ern in diesen Geschichten eben nicht für alle Menschen gedacht. Dem „whimsy“ von beschaulichen Bäckereien, aufstrebenden Modedesignerinnen und romantischen Hotels in den Alpen oder am Meer stehen rassistische und LGBTIA+-feindliche Klischees entgegen, unter anderem das ungenierte, graphische Ausschreiben von Gewalt gegen Marginalisierte, ausgeübt durch positiv gefärbte Perspektivfiguren, die keine Konsequenzen hat, sowie das Unsichtbarmachen von vor allem jüdischen Menschen oder auch Sinti und Roma, sowie den allermeisten Konsequenzen des NS-Regimes, die nicht gezielt die Protagonistin und ihre Familie betreffen. Dieses zutiefst problematische Muster zieht sich wie ein roter Faden durch das Genre. Es sind oft eben doch „vintage values“, die hier zum Vorschein kommen, ob von den Autor*innen beabsichtigt oder nicht.
Das führt unter anderem dazu, dass diese Romane für viele selbst marginalisierte Leser*innen unlesbar sind, verschiebt aber auch gewaltig das Bild, das die Leser*innen des Genres von der Nachkriegszeit haben, auf ähnliche Weise wie es die „Heile Welt“-Filme der tatsächlichen 1950er in der Retrospektive tun: Die „gute alte Zeit“, betrachtet durch die rosarote Brille, damals, als alles noch in Ordnung war. Natürlich steht das in Konflikt damit, was wir über diese Epoche wissen: Sie war turbulent, von Entnazifizierungsprozessen und politischen Skandalen gezeichnet, vom Frauenbild, das so misogyn war wie selten zuvor, von der Civil-Rights-Bewegung in den USA, von den in den 1960ern einsetzenden Studentenbewegungen und und und. Die „heile Welt“ der 1950er und 1960er hat niemals existiert. Existiert hat nur der Wunsch nach einer heilen Welt, als Ausgleich zur Realität.
Doch rund siebzig Jahre später präsentiert uns der historische Roman wieder dieselben Geschichten, von denen man einige genau wie sie sind schon im Jahr 1954 als Kinofilm mit Schlagermusik hätte anbieten können, ohne etwas verändern zu müssen. Was anders ist, ist die vergangene Zeit zwischen damals und heute, unser Abstand zur Nachkriegszeit, sowie unser stetig wachsendes Verständnis für gesellschaftliche Muster und soziale Ungerechtigkeiten dieser schwierigen, vielseitigen Epoche der deutschen und europäischen Geschichte. Autor*innen und Leser*innen sind Menschen des 21. Jahrhunderts. Weshalb lesen sich diese Romane dann so oft als sollten sie Menschen der 1950er Jahre gefallen? Wieso transportieren sie so oft Weltbilder, die in jedem anderen Genre zurecht sehr kritisch betrachtet und als unangenehm empfunden werden würden?
Geschichtsbilder und neue Perspektiven
Versteht mich bitte nicht falsch: Nostalgie eignet sich hervorragend zum Eskapismus und das ist in Ordnung: Nicht jeder historische Roman muss oder sollte eine düstere Auseinandersetzung mit historischen Realitäten sein. Was jedoch kritisch zu bewerten ist, ist der völlig unkritische Blick durch die rosagefärbte Linse auf die politischen und gesellschaftlichen Turbulenzen einer Epoche oder das komplette Ausblenden derer. Nicht in Ordnung ist das unreflektierte Reproduzieren von Rassismus, Antisemitismus oder LGBTIA+-Feindlichkeit im Namen einer „historischen Korrektheit“, die sowieso nicht existieren kann, aber vor allem nicht in Romanen, die im Kollektiv diese Epoche sowieso schon bis an den Rand der Glaubwürdigkeit romantisiert haben.
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Leser*innen nicht-weiße Figuren oder LGBTIA+-Figuren, die im historischen Roman ein Happy End erleben, als unrealistisch empfinden, nicht aber das arme Bauernmädchen, das den reichen Adeligen oder Geschäftsmann heiratet. Genau diese Verschiebungen im Geschichtsbild – also in dem, was von vielen Menschen als „historisch korrekt“ wahrgenommen wird – ist mit Sorge zu beobachten je weiter der Hype rund um Schicksals- und Familienromane über die deutsche Nachkriegszeit wächst. Was wir als Autor*innen in unseren historischen Romanen erzählen, wird nicht selten als historische Wahrheit aufgenommen, besonders, wenn dutzende Autor*innen dieselben Dinge erzählen. Auch hier haben Schreibende eine Verantwortung gegenüber Lesenden, die die wenigsten jedoch wahrhaben wollen.
Während sich der deutschsprachige Buchmarkt alles in allem hin zu Inklusion und kritischer Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft bewegt, offener und stetig interessanter wird, habe ich schon länger das Gefühl, dass der historische Roman aus der Reihe fällt und stattdessen große Schritte zurück macht. Vielleicht, weil er es kann, weil seine Problematiken nicht als moderne Problematiken verstanden werden, sondern als ein „Damals war das so, das kann man gar nicht anders darstellen“. Was wir bräuchten ist deutlich mehr Sensibilisierung für diese Thematiken, eine neue Herangehensweise an das 20. Jahrhundert, einen kritischeren Blick auf die Nachkriegszeit. Aber das wird, ähnlich wie die „heile Welt“ in den 1950ern, wohl ein Wunsch bleiben.
Beitragsbild: Werbung für Avisco, Harper’s Bazaar, April 1959 (via Flickr) | „Christmas in July: Polka Dot Paper Blue“, Sheila Reid (via DigitalScrapbook)