Pride Month 2021: LGBTIA+-Geschichte und der Historienroman

Heute wollte ich euch eigentlich eine Liste mit historischen Romanen mitbringen, in denen die positiven Seiten der LGBTIA+-Geschichte im Vordergrund stehen: Romane, die Spaß machen und historische Queer Culture beleuchten, denn es ist Pride Month. Leider hat sich das jedoch als kaum möglich herausgestellt, denn der Buchmarkt gibt das einfach noch nicht her. Und darüber sollten wir noch einmal sprechen, denn es macht mir Sorgen, dass sich der Buchmarkt als großes Ganzes zwar langsam verändert, das historische Genre aber beinahe stillsteht: Die Diversity-Bewegung hat Fahrt aufgenommen und wird immer schneller, der historische Roman aber bleibt als abgehängter Waggon zurück.

Das ist schade, vor allem für LGBTIA+-Leser_innen, die sich im Genre einfach nicht wiederfinden, doch die Problematik greift deutlich tiefer, denn besonders Geschichte kann identitätsstiftend sein. Zu wissen, woher wir kommen, wo die Wurzeln unserer Communities liegen und welche kulturellen Errungenschaften darauf zurückzuführen sind, ist bestärkend und wichtig. Doch besonders die Geschichte marginalisierter Gruppen, wie eben auch der LGBTIA+-Community, wurde lange Zeit ignoriert oder sogar bewusst unsichtbar gemacht. Das hat nicht nur im akademischen Kontext bis heute Tradition, sondern zieht sich auch wie ein roter Faden durch historische Unterhaltungsmedien und macht LGBTIA+-Leser_innen diese Identifizierungsmöglichkeit mit der eigenen Geschichte unzugänglich.


Eigen- und Fremdansichten: Eine Frage der Perspektive

Der „Darned Club“: Die lesbische Fotografin Alice Austen (ganz links) mit Trudy Eccleston, Julia Marsh und Sue Ripley, 1891 (Ausschnitt)

Problematisch ist das, weil historische Unterhaltungsmedien für viele Menschen ihr einziger Berührungspunkt mit Geschichte sind. Was ihnen dort präsentiert wird, formt unweigerlich ihr Geschichtsbild, da es kaum andere Einflüsse gibt, die sich darauf auswirken könnten. Zeigt man Geschichte komplett ohne LGBTIA+-Menschen (oder reduziert sie auf Opfer von diskriminierender Gewalt), formt man unweigerlich Geschichtsbilder, in denen für LGBTIA+-Menschen und -Kultur kein Platz ist. Diese Geschichtsbilder wirken sich auch darauf aus, wie Leser_innen unsere Gegenwart sehen, führen vor allem aber zu (bewusst und unterbewusst) queerfeindlichen Vorurteilen und zu völlig verdrehten Ideen davon, was „historisch korrekt“ ist – und was eben nicht.

Der Blick auf Geschichte ist, auch besonders in Unterhaltungsmedien, noch immer stark geprägt von nicht marginalisierten Stimmen und Erzählnarrativen, besser gesagt, Geschichte wird auch im Historienroman meistens aus dieser nicht marginalisierten Perspektive wiedergegeben. Diese Perspektive auf Geschichte schließt LGBTIA+-Menschen und ihre Kultur nicht nur oft systematisch aus, sondern ist auch voller großer und kleiner bewusster und unbewusster Aggressionen: Die Darstellung von LGBTIA+-Menschen als Opfer ihrer Gesellschaft und internalisierter LGBTIA+-Feindlichkeit, an der sie tragisch zugrunde gehen, oder gar als durch das eigene Queersein verdorbene Bösewichte, die von den nicht marginalisierten Held_innen besiegt werden müssen, ist immer gefärbt von diskriminierenden Mustern, auch dann, wenn sie unbewusst verwendet werden.

Denn dieses „Othering“, also das Darstellen einer Gruppe als fremd, anders und deshalb suspekt und grundlegend verdächtig, reduziert auf die negativsten Aspekte der LGBTIA+-Geschichte und blendet alles positive aus. Eine Balance zwischen guten und schlechten Seiten des Lebens in der Vergangenheit ist nicht mehr gegeben: Queere Menschen werden als Verlierer_innen der Geschichte dargestellt, denen kein Happy End zusteht oder gar zustehen kann, während nicht marginalisierte Menschen als Gewinner_innen hervorgehen, die selbstverständlich am Ende triumphieren – auch ganz eindeutig über LGBTIA+-Menschen. Selbst, wenn das unterbewusst und ohne böse Absichten geschieht, sind die Folgen fatal, denn so kommen wir zum Buzzword „historisch korrekt“, das als Totschlagargument jede Diskussion über diese Themen im Keim ersticken soll, aber auf komplett verdrehten und unvollständigen Geschichtsbildern basiert.

Die allermeisten Darstellungen von LGBTIA+-Figuren im Historienroman sind demnach Fremdansichten: Ein_e Außenstehende_r schaut auf LGBTIA+-Menschen und meistens ist dieser Blick nicht gnädig: Wenn nicht sogar offen feindselig und diskriminierend, was speziell im Historienroman noch weitläufig akzeptiert wird, da es als „historisch korrekt“ verstanden wird, ist er oft mitleidig oder strotzt vor Unverständnis für die (Lebens-)Situation der Person. Dieser Blickwinkel fällt mir in letzter Zeit verstärkt in Familiensagas auf, in denen der homosexuelle Bruder, der an Selbsthass und dem Druck der Gesellschaft schlussendlich scheitert, mittlerweile schon beinahe ein Archetypus ist, der in vielen dieser Romane eine Rolle spielt. Was deutlich fehlt, sind hingegen Selbstbilder: Geschichten aus LGBTIA+-Perspektive, die von innen kommt und nicht von außen herschaut.


„Historisch korrekt?“: Normen, Ideale und moderne Irrtümer

Fanny und Stella traten in Männer- und Frauenkleidung auf und werden heute größtenteils als trans Frauen oder nicht binär gelesen, Eigenbezeichnungen gibt es jedoch leider nicht. Sie waren in den 1860ern und 1870ern regelrechte Stars der LGBTIA+-Szene von London | Foto: 1869, britisch

So sind wir Mitte 2021 nun bei einem Buchmarkt angekommen, der die Fremdansicht auf LGBTIA+-Figuren als Opfer oder gar Antagonist_innen zwar akzeptiert, für positive historische Geschichten über LGBTIA+-Held_innen aber „noch nicht bereit“ sei – oder sie von vorn herein als „historisch nicht korrekt“ und somit unmöglich machbar abstempelt, was auf der einen Seite schlicht falsch ist und sich über den historischen Kontext und die Quellenlage nicht rechtfertigen lässt, auf der anderen Seite aber besonders infam, wenn man bedenkt, was sich sonst alles an Halbwahrheiten und mutwillig verdrehten Fakten im historischen Roman tummelt, ohne, dass die „historische Korrektheit“ ein Hindernis darstellt: „Künstlerische Freiheit“, sonst sehr beliebt und akzeptiert, greift anscheinend plötzlich nicht mehr, wenn es darum geht auf überzeichnet dargestellte Diskriminierung zu verzichten.

Ein bisschen Bewegung kam in den letzten Jahren zwar ins Genre – Der abgehängte Waggon rollt langsam hin und wieder ein Stück vorwärts – aber selbst sogenannte Own-Voice-Romane, also Romane von Autor_innen, die sich selbst zur LGBTIA+-Community zugehörig identifizieren und deshalb den Insider-Blick auf die Thematik haben, anstelle nur von außen beobachten zu können – konzentrieren sich noch deutlich zu oft auf tragische Liebesgeschichten, die nicht sein dürfen und an gesellschaftlichen Normen zerbrechen. Während es wichtig ist, sensibel und gut recherchiert auch über real historische Diskriminierung zu schreiben, bleibt das oben erläuterte Problem bestehen, wenn im historischen Setting überwiegend solche LGBTIA+-Romane angeboten werden, denn die positive Identifizierung mit LGBTIA+-Geschichte und -Kultur bleibt aus.

Was wir bräuchten wären Romane, die an der Idee rütteln, das queer sein in „Der Vergangenheit“ nur übel ausgehen konnte. Wo sind die Romane über historische LGBTIA+-Persönlichkeiten, die aufregende, erfüllende Leben gelebt haben? Wo sind die Romane über die queeren Zentren historischer Epochen und LGBTIA+-Kultur, die es in jeder Gesellschaft immer gegeben hat, auch lange bevor unsere moderne Terminologie zur Beschreibung existierte? Hier passiert auf dem Buchmarkt im Moment sehr viel Gatekeeping: Denn natürlich schreiben Autor_innen, besonders Own-Voices-Autor_innen, auch positiv gefärbte LGBTIA+-Romane, die sich mit genau diesen interessanten Aspekten von LGBTIA+-Identität und -Kultur in der Vergangenheit auseinandersetzen. Ob diese verlegt werden oder in der Schublade verstauben müssen, steht aber auf einem anderen Blatt.


„Glück ist der Grundgedanke“: Eine (sehr) kurze Geschichte des LGBTIA+-Romans

„[…] Es muss einen höheren Glauben geben, ein gerechteres Recht, für die Männer – und die Frauen – die sich nicht nach den gewöhnlichen Mustern der Gesellschaft formen können, die mit ihren eigenen Instinkten, Bedürfnissen, Wissen und Rechten – ja, Rechten! – geboren wurden.“
Aus „Joseph und sein Freund“, Bayard Taylor, 1870 (USA)

Im Kontext zu moderner LGBTIA+-Literatur mit historischem Setting lohnt es sich immer, auch einen Blick auf die Geschichte von LGBTIA+-Literatur selbst zu werfen, denn auch die ist kein Phänomen, das erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftritt, sondern hat schon immer existiert. In Epochen, in denen die eigene LGBTIA+-Identität nicht offen ausgesprochen werden darf, nutzten viele Autor_innen einen Code, der damals von den meisten Leser_innen, auch von selbst nicht marginalisierten, richtig eingeordnet wurde, von modernen Leser_innen aber oft nicht mehr entziffert werden kann, sodass LGBTIA+-Inhalte schlicht und ergreifend übersehen werden. Das 18. Jahrhundert brachte mit der Aufklärung zum Beispiel auch ein Anzweifeln gesellschaftlicher Normen, unter anderem von Konzepten, die wir heute als Cis- und Heteronormativität bezeichnen würden.

Letzten Herbst habe ich bereits darüber berichtet, wie zum Beispiel die frühe Gothic-Literatur des 18. Jahrhunderts als Ausdruck von queerer Identität genutzt wurde: Pioniere des Genres wie Matthew Lewis („Der Mönch„, 1796) waren nach heutigem Verständnis queer und verstanden sich auch nach den Konzepten ihrer eigenen Epochen auf ähnliche Weise. Als erster richtiger Roman mit explizit queerer Liebesgeschichte gilt „Ein Jahr in Arkadien“ von August, Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg, das 1805 erschien: Der Roman ist historische Fiktion, denn er spielt in der griechischen Antike und erzählt unter anderem die Liebesgeschichte zweier Männer – mit Happy End. Bereits 1870 fordert der amerikanische Autor und Diplomat Bayard Taylor in seiner LGBTIA+-Geschichte „Joseph und sein Freund“ Verständnis und Rechte für LGBTIA+-Menschen ein.

 Das späte 19. Jahrhundert und frühe 20. Jahrhundert ist die Geburtsstunde vieler LGBTIA+-Klassiker, wie Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1891), Virginia Woolfs „Orlando“ (1928) oder „Maurice“ von E.M. Forster, das zwar erst 1971 veröffentlicht wurde, aber schon 1913 geschrieben. Forster sagte über seinen Roman: „Ein Happy End war notwendig. Ich war überzeugt, dass zumindest in der Fiktion zwei Männer sich verlieben sollten und verliebt bleiben sollten, für die Ewigkeit, die Fiktion erlaubt. Glück ist der Grundgedanke [des Romans].“ Daran sollten sich auch moderne Autor_innen ein Beispiel nehmen. 1928 veröffentliche die britische Autorin und Dichterin Radclyffe Hall ihren Roman „Quell der Einsamkeit“, dessen lesbische Protagonistin am Ende betet: „Gib auch uns das Recht zu existieren!“.


Konstruierte Geschichte und moderne Diskriminierung

Ein Paar im Garten, um 1900 | Männlich assoziierte Kleidung war in der Vergangenheit für viele sapphische Frauen Ausdrucksmittel ihrer Identität

Wir müssen weg vom Bild des historischen LGBTIA+-Menschen, der sein Leben lang leidet und sich in seiner diskriminierenden Gesellschaft nicht entfalten kann, bis hin zu Selbstaufgabe oder gar dem eigenen Tod, denn dieses Bild ist nicht „historisch korrekt“ – Ganz im Gegenteil ist es unvollständig und macht LGBTIA+-Kultur, wie zum Beispiel frühe LGBTIA+-Romane, und tatsächliches Leben in vergangenen Epochen unsichtbar, sowie den nicht zu unterschätzenden Einfluss, den LGBTIA+-Kultur immer auf den „Mainstream“ hatte. Historische Geschichtsforschung und Historienmedien drängen marginalisierte Gruppen in ihren konstruierten historischen Settings an den Rand der Gesellschaft, obwohl sie ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft waren und sie auch maßgeblich beeinflussten. 

Dieser konstruierte Ausschluss von LGBTIA+-Menschen aus ihren eigenen historischen Lebensgeschichten, das Reduzieren auf die negativsten Aspekte historischer LGBTIA+-Identität, das Ausblenden von LGBTIA+-Kultur und historischen Persönlichkeiten der Vergangenheit, ihrer Lebensgeschichten, ihren Erfolgen und ihren Errungenschaften ist, ob bewusst oder unbewusst geschehen, auch Diskriminierung. Auf einem Buchmarkt, der sich für Diversity und Repräsentation immer weiter öffnet, wird das Fehlen von historischen Abenteuerromanen, Gesellschafts- und Schicksalsromanen, Krimis und Thrillern mit positiv dargestellten LGBTIA+-Figuren und -Kultur immer auffälliger. Es wird Zeit, historische LGBTIA+-Identität und -Existenz im Genre zu normalisieren, anstatt sie auszuschließen, an den Rand zu drängen oder gar selbst zu diskriminieren.

Wir befinden uns an einem Scheitelpunkt, auch in der Geschichtswissenschaft: LGBTIA+-Geschichte findet langsam auch außerhalb von Feldern wie Queer Studies ihren Weg in akademische Forschung, die sich für queere Perspektiven öffnet, doch der Weg ist noch weit und sollte nicht auf den akademischen Kontext beschränkt bleiben. Historische Unterhaltungsmedien formen das Geschichtsbild vieler Menschen maßgeblich mit und es ist überfällig, LGBTIA+-Menschen zurück in die kollektive Wahrnehmung von Geschichte zu schreiben und vor allem auch LGBTIA+-Autor_innen, historischen wie modernen, die Chance zu geben, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Doch dafür müssen wir den Waggon wieder anhängen, bevor das Genre uns vollends entgleist.


In diesem Beitrag steckt viel Arbeit, Zeit und Recherche. Falls er dir bei deinen eigenen Recherchen weitergeholfen hat, würde ich mich über eine Nennung als Quelle freuen.


Weiterführendes:

Fitzgerald, Lauren: The Sexuality of Authorship in The Monk. 2015.

Mitchell, Mark/Leavitt, David [Hg.]: Pages Passed from Hand to Hand. The Hidden Tradition of Homosexual Literature in English from 1748 to 1914. 1998.


Beitragsbild: „Zwei lesende Frauen“, John James Masquerier (zugeschrieben), ca. 1800

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