“Run Away to the Moors”: Die Natur im Gothic- und Schauerroman

Das Gothic- und Schauerromangenre hat eine sehr eigene Atmosphäre, die oft durch das Setting untermalt wird: Ein stürmischer Herbsttag auf dem Moor mit grauem Himmel und Regen. Oder ein kühler Morgen Anfang November, Nebel hängt über den Feldern. Eine dunkle Nacht, in der der Wind die Fenster eines alten Herrenhauses klirren lässt. In jedem guten Gothic-Roman spiegeln Wetter, Landschaft und Setting, dass bald etwas Düsteres geschehen wird, sodass ein beklemmendes Gesamtbild entsteht. Das ist jedoch bei Weitem nicht die einzige Aufgabe der Natur im Schauerroman: Das Genre und der menschliche Blick auf die Natur sind beinahe untrennbar verbunden.

Das hängt einerseits eng mit der Entstehungsgeschichte des Genres zusammen: Gothic ist eine Spielart der Romantik, die im späten 18. Jahrhundert in Kunst, Literatur und Musik eine Art Gegenbewegung zur rationalen, nach Ordnung und Vernunft strebenden Epoche der Klassik wurde. Die Romantik ist ganz explizit nicht vernünftig: Sie stellt das Empfinden in den Mittelpunkt, vor allem das Sehnsuchtsmotiv, und möchte Grenzen aufsprengen. Ihr Spiegel ist die Dunkle Romantik, „the Gothic“, die sich nach dem Unheimlichen sehnt, die bekannte Wirklichkeiten mit dem Übernatürlichen vermischt und in düsteren, oft makabren Bildern ganz bewusst das Irrationale und das „Böse“ erkundet.


Dunkle Romantik: Eskapismus und die dunkle Landschaft

„See im Mondschein mit gotischer Ruine“, Sebastian Pether, erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, britisch (Ausschnitt)

Die von Menschenhand unberührte Natur ist in der Romantik ganz allgemein ein Symbol für die Sehnsucht nach einem Leben außerhalb der gesellschaftlichen Konventionen der Epoche: Der romantische Drang zum Eskapismus ist nicht selten auch von Kritik an der Gesellschaft der Gegenwart geprägt, ausgedrückt durch eine Flucht ins Pittoreske, in endlose Landschaften, die alles möglich zu machen scheinen. (Etwas, das sich übrigens auch im Cottagecore-Trend der letzten zwei Jahre wiederfindet.) Auch die Dunkle Romantik kennt dieses Motiv natürlich: Sie stellt dem geordneten gesellschaftlichen Leben düstere Moore, ländliche Friedhöfe oder auch dunkle Wälder entgegen.

Das wilde, unberührte Land, das gleichzeitig gefährlich und verlockend ist, ist also immer auch ein Symbol für den Ausbruch aus starren gesellschaftlichen Konventionen des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Letztes Jahr habe ich über die gesellschaftskritischen Hintergründe des Gothic-Genres geschrieben, sowie über das Genre als Sprachrohr für marginalisierte Stimmen. Der Archetypus der „gothic heroine“, der Schauerromanheldin, die im weißen Nachthemd aus einem dunklen Gemäuer aufs Moor flieht, kommt demnach natürlich auch nicht von ungefähr: Das naive, behütet aufgewachsene Mädchen wirft weit weg vom geregelten Leben zuhause die Konventionen ab.

Alte Friedhöfe, Ruinen oder zerfallene Schlösser und Herrenhäuser, umringt von diesen wilden, düsteren Landschaften, sind also nicht nur unheimliche Schauplätze, sondern immer auch Symbole für ein Leben abseits geregelter und für viele Menschen erdrückender sozialer Konventionen. Vergängliche Zivilisation – die Ruine eines mittelalterlichen Schlosses draußen auf dem Moor – und das Abwerfen dieser Konventionen liegen dem Gothic- und Schauergenre im Blut, was nicht allzu verwunderlich sein dürfte, wenn man bedenkt, dass es von Frauen und LGBTQ-Autor_innen begründet wurde, die im Schreiben von Schauergeschichten selbst ihren Ausbruch fanden.


Das unberührte Land: Natur gegen Mensch gegen Industrie

„Wanderer im Sturm“, Julius von Leypold, 1835, deutsch (Ausschnitt)

Natürlich spielt der historische Kontext der Entstehungszeit des Genres auch hier eine große Rolle: Die Schrecken der Atlantischen Revolutionen zum einen, die voranschreitende Urbanisierung und Industrielle Revolution zum anderen. Das unberührte Land wird zum Gegenbegriff zur einengenden Stadt. Im englischsprachigen Raum wird das Genre nicht umsonst „Gothic“ genannt, nach den gotischen Schlössern und Ruinen, die eine so große Rolle spielen. Ähnlich wie unberührte Natur romantisiert das Genre schließlich ebenfalls das Mittelalter, das von den Menschen im Zeitalter der Industrialisierung als naturverbundener und ursprünglicher wahrgenommen wurde.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass im 18. Jahrhundert das Reisen einen wichtigeren Stellenwert einnimmt als zuvor, während die Innovationen in der Schifffahrt und die Erfindung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert das Reisen einfacher machten als je zuvor. Besonders der britische Gothic-Roman romantisiert ferne Länder, allen voran Italien und Spanien, zur fremden Landschaft, die gleichzeitig Objekt der romantischen Sehnsucht, aber auch fremd und gefährlich ist. Dieses Motiv findet sich besonders in frühen Schauerromanen, unter anderem in denen von Ann Radcliffe (1746-1823), zieht sich aber bis ins 20. Jahrhundert und gilt als Gothic-Tradition.

Auch bei den Brontë-Schwestern, die das Genre Mitte des 19. Jahrhunderts stark beeinflussten, finden sich all diese Motive. In Emily Brontës „Sturmhöhe“ (1847) sind die wilden, nordenglischen Moore ein Fluchtziel der Figuren, die sich hier vor den Erwartungen und Regeln ihrer Gesellschaft verstecken. Einen ähnlichen Charakter haben die Moore in „Jane Eyre“ (1847) von Charlotte Brontë. In ihrem Roman „Villette“ (1853) hingegen flieht die englische Protagonistin in das fiktive belgische Dorf Villette, das denselben Zweck erfüllt: Villette ist fremd und manchmal düster, bietet der Protagonistin jedoch die Chance zum Ausbruch aus der britischen Etikette.


Folk Horror: Das Eigenleben der Natur

Eine Lawine in den Alpen“, Philip James De Loutherbourg, 1803, französisch-britisch (Ausschnitt)

Die Natur ist deshalb auch nicht nur Setting, sondern besitzt oft regelrecht ein Eigenleben und ist eine antagonistische Kraft. Besonders im Untergenre des Folk Horror, das eng mit Gothic-Traditionen verwoben ist und in dem Naturmagie, uralte ländliche Traditionen und Aberglauben eine große Rolle spielen, ist das uralte Land, auf dem die Geschichte spielt, die eigentliche Hauptfigur. Folk Horror muss nicht übernatürlich sein: Unheimliche Ernteriten oder uralte ländliche Bräuche stehen oft im Fokus. Aber auch Naturgeister oder gar Gottheiten aus vorchristlicher Zeit sind beliebte Motive im Folk Horror.

Ein weiteres Motiv der Natur als antagonistische Kraft sind natürlich Naturkatastrophen und Unwetter: Dass es im Gothic-Roman oft regnet und der mit Unheil drohende Blitz über den Himmel über dem Schloss zuckt, ist mittlerweile ein bisschen ein Running Gag unter Leser_innen geworden, soll aber natürlich nicht nur Stimmung transportieren. Die Natur ist gleichzeitig Sehnsuchtsziel, aber sie ist auch wild, fremd und unnahbar: Die Stadt mit ihren gesellschaftlichen Regeln und Konventionen ist erdrückend, aber sie ist auch sicher. Das ungezähmte Land lockt und verspricht Freiheiten, steckt aber auch voller Gefahren. Ob das Risiko es wert ist?

Am Ende sind die düsteren Moorlandschaften, Wälder oder Friedhöfe, für die das Gothic-Genre berühmt ist, also deutlich mehr als bloß stimmungsvolle Settings. Oft haben sie ein Eigenleben, meist sind sie Symbole für die romantische Sehnsucht nach Abenteuer, einem selbstbestimmten Leben, ein bisschen Chaos und die Gefahren und Schrecken, die damit einhergehen können. Das wilde, düstere, von Menschenhand meist unberührte Land ist der Gegenentwurf zur industriellen, geschäftigen Stadt, zum Leben mit strengen gesellschaftlichen Regeln und Konventionen und vor allem der Ausdruck dessen, was der Dunklen Romantik zugrunde lag: Eine tiefe Faszination mit dem Ungeordneten, dem Irrationalen, dem Tragischen und Düsteren.


In diesem Beitrag steckt viel Arbeit, Zeit und Recherche. Falls er dir bei deinen eigenen Recherchen weitergeholfen hat, würde ich mich über eine Nennung als Quelle freuen.


Quellen und Weiterführendes:

González Almodóvar, Ignacio: The Concept of ‘Nature’ in Gothic and Romantic Literature. 2014.

Heholt, Ruth/Downing, Niamh: Haunted Landscapes. Super-Nature and the Environment. 2016.

Hillard, Tom J.: „Deep Into That Darkness Peering“: An Essay on Gothic Nature. In: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment, Vol. 16, Nr. 4. 2009. S. 685 – 695.

Kullmann, Thomas: Vermenschlichte Natur. Zur Bedeutung von Landschaft und Wetter im englischen Roman von Ann Radcliffe bis Thomas Hardy. 2017.


Beitragsbild: „A Pleasant Corner“, John Callcott Horsley, 1865 | „Herbstlandschaft mit vier Bäumen“, Vincent van Gogh, 1885

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