Dressing the Gothic: Die Bedeutung von Kleidung im Schauerroman

Dass es eine Verbindung zwischen Schauerromanen und Kleidung gibt, liegt nicht von vornherein auf der Hand. Umso interessanter ist es natürlich, sich die Wechselwirkung von Dunkler Romantik und Modetrends, besonders im späteren 19. Jahrhundert, etwas genauer anzuschauen. Viel Forschung gibt es zu diesem Thema leider noch nicht, weshalb die Monografie „Fashioning Gothic Bodies“, die 2004 von Catherine Spooner über die Manchester University Press herausgegeben wurde, ein wahres Recherchejuwel darstellt. Ich möchte das Buch deshalb als großartige Quelle für das Thema hervorheben, ohne die dieser Artikel kaum möglich gewesen wäre.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert haben Kleidung und Schauerliteratur eines gemeinsam: Durch Prozesse der Industrialisierung und Globalisierung, die im späten 18. Jahrhundert beginnen, wird Konsum nicht nur deutlich einfacher, sondern auch einem deutlich größeren Anteil der Bevölkerung zugänglich gemacht. Um 1900 sind modische Kleidung und Bücher längst kein Luxusgut mehr, das sich nur die wohlhabendsten Mitglieder der Gesellschaft leisten können. Kleidung, nach den neusten Pariser Trends geschneidert, gibt es nun in mehreren Preisklassen „von der Stange“. Und besonders Schauerliteratur floriert als günstiger Groschenroman.


„Never been moved since“: Der Schleier und die Gothic Heroine

Links: Junge Frau in Trauerkleidung mit Schleier, ca. 1850 | Mitte: Junge Frau mit Schleier, Johann Grund, 1852 | Rechts: Mantille, europäisch, 1870-1900 (Met Museum)

Diese Entwicklung hin zum gut vernetzten, urbanen Leben ist für das Genre wichtig: Im Verlauf des 19. Jahrhunderts löst der menschliche Körper selbst fremde und wilde Landschaften im Gothic-Roman als Leinwand für die Handlung ab. Body Horror und vor allem eine Auseinandersetzung mit den Oberflächlichkeiten und den Zweischneidigkeiten dieser Gesellschaft rücken in den Vordergrund. Kleidung, und besonders Mode, spielen hierbei eine große Rolle, denn Kleidung fungiert bis heute als Oberfläche, über die ein bestimmtes Image und die eigene Identität projiziert werden sollen, Kleidung kann aber auch eine Maske sein, hinter der das wahre Selbst versteckt wird.

Spooner stellt in „Fashioning Gothic Bodies“ besonders Masken und Schleier in den Mittelpunkt, die als Inbegriff dieser Symbolfunktion gelten: Hinter der respektierlichen Fassade der gutbürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verstecken sich Monster und dunkle Abgründe. Der Schleier ist eine dünne Grenze zwischen der Trägerin, oft das Idealbild viktorianischer Weiblichkeit, und dem gefährlichen, düsteren „Gothic“, das sie navigieren muss und das sie verändern wird. Der Schleier ist außerdem eine Oberfläche, die den wahren Charakter der Schauerromanheldin verbirgt, der sich erst enthüllt, wenn sie die Konventionen ihrer Gesellschaft abwirft. 

Der Schleier, und Kleidung generell, haben jedoch noch eine andere symbolische Funktion, die ebenso wichtig ist. In Ann Radcliffes „Das Schloss von Udolpho“ (1794) bleibt der schwarze Schleier der Marquise von Villeroi nach ihrem Tod zurück. „My lady’s hand laid [it] there; it has never been moved since! […] I well remember seeing her take it off. It was on the night before her death.“ (dt. „Die Hand meiner Herrin hat ihn hergelegt; seitdem wurde er nicht mehr bewegt! […] Ich erinnere mich gut, wie sie ihn abgenommen hat. Es war am Abend vor ihrem Tod.“) Kleidung ist im Schauerroman oft ein beinahe nostalgisches Stilmittel: Sie wird zurückgelassen und Jahrzehnte später wieder entdeckt, ist etwas sehr Persönliches, in dem sich die Identität einer verstorbenen oder vermissten Person spiegelt, eine Verbindung zwischen Heute und Damals.


Die weiße Frau: Gothic-Geister und die heimsuchende Vergangenheit

Links: Tageskleid, ca. 1885 (Met Museum) | Mitte: Hochzeitsschleier, ca. 1875 (Met Museum) | Rechts: „Die weiße Frau“, Gabriel von Max, 1900

Neben dem Schleier ist auch das weiße Leichentuch („the shroud“) ein Symbol, das im Schauerroman eine ganz ähnliche Bedeutung hat. Besonders im britisch-viktorianischen Kontext wurde die Farbe weiß mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht. Weiß steht für (im 19. Jahrhundert als ideal angesehene) moralische Reinheit, ist aber auch eine Farbe, die im Schauerroman mit Geistererscheinungen, Tod und Begräbnis assoziiert wird. Das weiße Kleid, das oft ganz direkt mit einem Leichentuch verglichen wird, ist also gleichzeitig Symbol für Jugend und Reinheit, aber auch für Tod und Vergänglichkeit und den Konflikt zwischen beidem, der im Gothic oft behandelt wird.

Spooner beschreibt Kleidung im Schauerroman als „vestigial“: Kleidung ist oft ein Überbleibsel, im bereits genannten Sinn, aber auch im übertragenen Sinn. In seinem Kern beschäftigt sich der Schauerroman beinahe immer mit sozialen und gesellschaftlichen Ängsten seiner Epoche. Hier spiegelt sich vor allem die Angst vor Unterdrückung und vor archaischen Mustern, die abgelegt wurden, aber zurückkommen könnten. Das drückt sich oft über diese „vestigiale“, diese übriggebliebene Kleidung alter Gesellschaften aus, die gleichzeitig nostalgisch aufgeladen ist, aber vor allem „düstere Zeiten“ symbolisiert, die zurückkehren könnten.

Das bedeutet nicht, dass die beschriebene Kleidung tatsächlich einschränkend oder gar gefährlich war. Sie wird jedoch als archaisch angesehen und somit negativ gespiegelt. (Spooner vergleicht das sehr treffend mit unserer modernen Ablehnung des Korsetts, das mehr Symbol für eine unterdrückende Gesellschaft ist als tatsächlich ein unbequemes Kleidungsstück.) Kleidung – der Schleier, das weiße Kleid – kann die Gegenwart als Symbol für die Vergangenheit heimsuchen, besonders, wenn sie alt und zerrissen ist. „Jane Eyre“ (1847) und ihr zerrissener Hochzeitsschleier vereinen all diese Gothic-Motive in einer unheimlichen, aufrüttelnden Schlüsselszene.

Die Frau im weißen Kleid ist im Schauerroman immer eine Erscheinung: Sie kann ein Ausdruck des „sublime gothic“ sein, ein überzeichnetes Bild der „idealen Frau“ oder der Geist, ob lebendig oder tot, im Leichentuch – und manchmal alles davon zugleich, wie in Wilkie Collins‘ „Die Frau in Weiß“ (1860). Sie ist das wohl häufigste Gothic-Motiv, das gesellschaftliche Normen in Frage stellt und mit ihnen bricht, aber längst nicht das einzige. Kleidung ist im Schauerroman nicht selten ein wichtiges Symbol für Oberflächlichkeiten und die Dualität seiner Held_innen, für Vergänglichkeit, abgeworfene Konventionen und die Ängste, die uns heimsuchen.


Transgressionen: „Das Andere“ und Grenzbrüche im Schauerroman

Das Gothic-Genre fordert gesellschaftliche Normen heraus und bringt das Unausgesprochene und Unterdrückte an die Oberfläche: Kurz gesagt, der Schleier fällt. Gothic passiert dann, wenn seine Held_innen, konfrontiert mit dem Dunklen, Unheimlichen, die Sicherheit des gesellschaftlich Akzeptiertem abstreifen müssen. Im 19. Jahrhundert konzentriert sich der Schauerroman auch vor allem auf die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlich akzeptiertem „Ich“, das nach außen getragen wird, und dem wahren „Ich“, das versteckt werden muss. „The Other“, das Andere, rückt in den Mittelpunkt und Gothic wird zum Werkzeug für das Ausbrechen aus der spätviktorianischen Norm.

Der Schauerroman leistet das unter anderem über die Kleidung seiner Protagonist_innen. Einflüsse von Dandyismus, der idealisierte Männlichkeitsbilder herausforderte, finden sich genauso in den Gothic-Romanen des späteren 19. Jahrhunderts (vor allem in Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ (1891)), wie Frauenfiguren in männlich konnotierter Kleidung, wie Charlotte Brontës „Shirley“ (1849). Kleidung kann Schutz vor einer erdrückenden Gesellschaft sein: Sie kann ein respektierliches Image projizieren und die Träger_innen in den gesellschaftlichen Diskurs ihrer Epoche einbinden. Genau das kann aber auch zur erdrückenden Pflicht werden. 

Gleichzeitig kann die „falsche Kleidung“, oder zu wenig Kleidung, diese grenzüberschreitenden Figuren markieren: Modische, vollständige Kleidung symbolisiert eine in die Gesellschaft integrierte Person. Der Verlust dieser Kleidung, durch Zerstörung oder Entkleidung, hingegen leitet das Brechen mit dieser Gesellschaft und ihren Konventionen ein – und diskutiert manchmal subtil Moral- und Anstandsvorstellungen. Der Schleier, zum Beispiel, dient als Grenze und Schutz vor dem „Anderen“, lädt aber immer auch dazu ein ihn zu lüften und kann provokant interpretiert werden, während auch zu fulminante Kleidung gesellschaftliche Normen zu Sittsamkeit und Anstand herausfordert.

Am Ende ist Kleidung im Schauerroman, einem Genre, das mit Symbolik und Subtext gern spielt, selten nur Kleidung. Besonders im späten 19. Jahrhundert, als der menschliche Körper zur Leinwand des Gothic-Romans wird, ist (modische) Kleidung oft eine Grenze zwischen dem respektierlichen Ich und dem wahren Ich, dessen unausgesprochene Geheimnisse an die Oberfläche drängen. Kleidung kann heimsuchen, besonders archaische, alte und/oder zerstörte Kleidung, sie kann ein Schutzschild sein, aber auch erdrücken, sie drückt Identität aus, aber sie verschleiert sie auch. Eines ist sie meistens: Ein starkes Symbol, das man im Schauerroman nicht unterschätzen sollte.


In diesem Beitrag steckt viel Arbeit, Zeit und Recherche. Falls er dir bei deinen eigenen Recherchen weitergeholfen hat, würde ich mich über eine Nennung als Quelle freuen.


Weiterlesen:

Batchelor, Jennie: Dress, Distress and Desire. Clothing and the Female Body in Eighteenth-Century Literature. 2005.

Cavallaro, Dani/Warwick, Alexandra: Fashioning the Frame. Boundaries, Dress and Body. 1998.

Clery, E.J.: The Rise of Supernatural Fiction. 1762–1800. 1995.

Gentile, Kathy Justice: Sublime Drag. Supernatural Masculinity in Gothic Fiction. In: Gothic Studies 11.1. 2009.

Sloan, Casey Lauren: The Gothic Sartorial. Fashion and Costume in Novels From the Long Nineteenth Century. 2017.

Spooner, Catherine: Fashioning Gothic Bodies. 2004.


Beitragsbild: „Fanny Janauscheck“, Arnold Böcklin, 1861 (Städel Museum)

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