In Bildern lesen: People of Colour in der europäischen Kunstgeschichte

Die gesellschaftliche Rolle von People of Colour im historischen Europa wird seit einigen Jahren nicht nur in der Geschichtswissenschaft diskutiert, sondern auch in den sozialen Medien, oft im Kontext zur Darstellung in historischen Filmen oder Romanen. Leider kommt es noch allzu oft vor, dass die Geschichte von People of Colour in Europa als unwichtig erachtet wird und BIPoC außerhalb der klischeebelasteten Rollen als Dienstpersonal oder gar versklavte Personen nicht mitgedacht werden. Unter dem Deckmäntelchen der „historischen Korrektheit“ werden auch bei diesem Thema historische Grenzen konstruiert, die nicht nur im historischen Kontext einschränken, welche gesellschaftlichen Rollen People of Colour einnehmen können, sondern auch unser modernes Bild von marginalisierter Geschichte und ihren Menschen und Errungenschaften stark prägen und verzerren kann.

Als eine Art Gegenbeweis werden besonders in den sozialen Medien immer wieder historische Gemälde geteilt, die People of Colour zeigen. An sich ist das natürlich ein guter Ansatz, denn die Präsenz von People of Colour in europäischer Kunst bietet einen guten Übergang zur Präsenz von People of Colour im historischen Europa selbst. Problematisch ist aber oft der fehlende Kontext, der es für viele Betrachtende unmöglich macht das Gemälde richtig geschichtlich einzuordnen. Aus welcher Epoche stammt das Gemälde? Wo in Europa ist es weshalb entstanden? Und, am wichtigsten, wer ist die abgebildete Person, wie sah ihre Lebensrealität aus und welche gesellschaftliche Rolle nahm sie ein? Ich möchte mir heute ein paar dieser Bilder mit euch anschauen und ein bisschen historischen Kontext liefern, denn hinter diesen Gemälden versteckt sich oft wertvolles Wissen, das für viele unentdeckt bleibt.

Inhaltswarnung
Ich spreche in diesem Text über systematischen Rassismus, unter anderem in der Geschichtsforschung. Darüber hinaus spreche ich über Sklaverei, Kolonialismus, Imperialismus und vergleichbare Themen.

Das Bias-Problem: BIPoC als Dienstpersonal in europäischer Kunst

Links: „Elizabeth Murray mit einem Schwarzen Jungen“, Peter Lely, 1651, englisch | Mitte: „Friedrich Ludwig von Württemberg, seine Ehefrau Henriette und eine Schwarze Frau“, Antoine Pesne, 1716, deutsch | „Christiaan van Molhoop“, Ozias Humphry, ca. 1795, britisch (Ausschnitte)

Dass es sich bei allen People of Colour, die auf historischen europäischen Gemälden abgebildet sind, zwingend um Dienstpersonal handeln muss, ist knapp gesagt ein Fehlschluss, entstanden aus einem diskriminierenden Bias heraus, der nicht nur die Kunstgeschichte lange Zeit heimgesucht hat, sondern auch die kollektive Wahrnehmung historischer People of Colour bis heute prägt. Natürlich ist es keinesfalls ein Irrtum, dass es im historischen Europa nicht nur People of Colour als Dienstpersonal gab, sondern auch versklavte Menschen. Dies zu leugnen wäre grobe Geschichtsklitterung. Die Geschichte von People of Colour in Europa hängt stark mit Kolonialismus und Imperialismus zusammen – aber eben nicht nur. Auch sich über die Zeit entwickelnde neue Möglichkeiten der Mobilität und eine stetig zusammenrückende Welt spielen eine Rolle und People of Colour als Handelnde, Reisende und natürlich auch langfristig Bleibende in Europa.

Aber wie nun kann ich als betrachtende Person, die vor einem historischen Gemälde steht, erkennen, welche Rolle in der Gesellschaft die abgebildete Person eingenommen hat? Allermeist liegt der Schlüssel in einer genauen Betrachtung der genutzten Symbole: Kleidung und Gegenstände können Aufschluss geben, nicht zuletzt, da vor allem Schwarze Dienstbot*innen vor allem im 17. und 18. Jahrhundert eine Art kolonialistisches „Statussymbol“ für weiße Adelige darstellten, das auf Gemälden als Beweis für den eigenen Reichtum in Szene gesetzt wurde. Ein aussagekräftiges Beispiel ist das Porträt der englischen Adeligen Elizabeth Murray oben links, sowie das Porträt von Friedrich Ludwig von Württemberg und seiner Gattin Henriette in der Mitte: Die Schwarzen Dienstboten verschwinden im Hintergrund, während die weißen Adeligen zentriert sind. Sie tragen exotisierende Kleidung wie Turbane, Gold- oder Perlentropfenohrringe und Halsringe.

Eine weitere Form des „Dienstbotenporträts“ ist das Pastellporträt von Christiaan van Molhoop oben rechts. Das Porträt macht van Molhoop selbst zum Subjekt der Zeichnung und exkludiert seinen Dienstherren, doch seine orientalisierte Kleidung mit Federturban in den niederländischen Farben weisen ihn als Dienstboten eines niederländischen Adeligen aus. Spezifisch war er ein Diener des niederländischen Botschafters in London, wo van Molhoop von einem englischen Maler porträtiert wurde. Tatsächlich hieß das Bild lange Zeit „Diener des Baron Nagell“: Hier lässt sich auch gleich ein wichtiger Bestandteil der Bekämpfung von rassistischem Bias in der Kunstgeschichte erkennen, denn lange Zeit wurde Christiaan van Molhoop über seinen Dienstherren definiert, nicht über seinen eigenen Namen und seine Geschichte. Antikolonialistische Aufarbeitung rezentriert ihn in seiner eigenen Geschichte.


„Dame mit goldener Uhr“, ca. 1585, italienische Renaissance

„Dame mit goldener Uhr“, Annibale Caracci, ca. 1585, italienisch (Fragment)

Caraccis „Dame mit goldener Uhr“ ist wohl eines der besten Beispiele dafür, wie dieser Bias greift, denn lange Zeit wurde das Porträt aus der späten Renaissance als Porträt einer Sklavin verstanden, weil es eine Schwarze Frau zeigt. Dafür sprechen nicht nur viele Bildelemente gegen diese Theorie, sondern vor allem auch die Darstellung der Frau im Halbprofil, den Blick den Betrachtenden zugewendet: Eine Pose, die sie als einflussreiche Dame auszeichnet. Auch ihre Kleidung spricht für einen hohen gesellschaftlichen Stand. Die Frau trägt eine schlichte, hochmodische schwarze Gamurra. Schwarz ist im Kontext der späten italienischen Renaissance die Farbe von Einfluss und Wohlstand, der Samtbesatz und die Metallspitze, die am Ausschnitt hervorlugt, sind kostbare modische Spielereien. Hochmodisch in dieser Epoche sind auch die Halskette aus roter Koralle und die goldenen Tropfenohrringe.

Der Elefant im Raum ist jedoch natürlich die vergoldete Uhr, die die Dame in der Hand hält und den Betrachtenden präsentiert. Es handelt sich um eine so genannte Türmchenuhr, in der italienischen Renaissance ein beliebtes Luxusgut mit praktischem Zweck: Sie war eine der ersten Uhren, die komfortabel auf Reisen mitgeführt werden konnten. Die drei Nadeln, die neben der Uhr im Mieder der Dame stecken, interpretiert Kleiderhistorikerin Kenna Libes als Symbol dafür, dass die Frau eine angesehene Schneiderin und Modemacherin gewesen sein könnte, während Jonathan M. Square auf die Geschichte Schwarzer Adeliger am Medici-Hof hinweist und die Frau in diesen Kontext setzt. Geklärt ist die Identität der Frau bisher nicht, doch eine Sklavin oder Bedienstete kann sie kaum gewesen sein.

Ihr Porträt birgt jedoch noch ein weiteres Rätsel, denn es handelt sich nur um ein Porträtfragment: Am rechten Bildrand sind ein Arm und ein Teil des Stehkragens einer zweiten Dame zu erkennen. In diesem Sinne erzählt die „Dame mit goldener Uhr“ noch eine weitere Geschichte, denn ebenfalls ungeklärt ist, warum nur die Dame mit der Uhr die Zeit überstanden hat und das Bildnis der anderen Frau nicht. Es ist wohl anzunehmen, dass zwischen den beiden Frauen ein enges, vielleicht verwandtschaftliches Verhältnis bestanden hat. Das wäre nicht nur für das Italien der ausgehenden Renaissance nicht ungewöhnlich: Im Europa dieser Epoche sind angeheiratete Verwandtschaftsgrade zwischen weißen und Schwarzen Adeligen keine Ausnahme, sondern fast schon häufig. Und das ist eine gute Überleitung zum nächsten Porträt, auf das wir einen Blick werfen sollten.


„Porträt eines Mannes“, ca. 1525, niederländische Renaissance

„Porträt eines Mannes“, Jan Mostaert, ca. 1525, niederländisch

Auch Mostaerts „Porträt eines Mannes“ aus der niederländischen Renaissance sollte sofort durch die vornehme Pose des Modells ins Auge fallen: Auch dieser Mann ist im Halbprofil dargestellt, hält Blickkontakt mit den Betrachtenden und hält das Kinn stolz erhoben. Seine Kleidung spricht ebenfalls für sich: Er trägt ein weißes Hemd, das fein bestickt ist, ein dunkelrotes Wams und einen geschlitzten schwarzen Tappert, sowie weiße, mit Quasten verzierte lederne Handschuhe: Seine Kleidung ist sehr kostbar, wenn auch für die Epoche etwas altmodisch. An seinem Gürtel hängt zudem ein filigranes Schwert, eher Statussymbol als Waffe, sowie ein bestickter, goldener Geldbeutel. Das Augenmerk fällt schnell auf das Pilgerabzeichen an seiner orangefarbenen Mütze, das für Adelsporträts der Epoche nicht ungewöhnlich ist und eine Zugehörigkeit zum habsburgischen Hof in den Niederlanden andeuten könnte.

Diesen Mann als Bediensteten zu interpretieren, geht tatsächlich gegen jegliche Bildsprache und kunsthistorischen Kontext, denn der Mann ist genauso porträtiert wie weiße Adelige seiner Zeit, wenn er auch altmodisch gekleidet ist. Seit einigen Jahren wird die These heiß diskutiert, dass es sich bei dem Mann um Christophle le More handeln könnte, ein hoch angesehenes Mitglied der Leibwache des Kaisers Karl V. Le More lebte später in den Niederlanden am Hof von Margarete von Österreich, wo auch Jan Mostaert arbeitete. Ob es sich um Christophle le More handelt, einen anderen angesehenen Soldaten am Habsburgischen Hof oder gar um einen Verwandten niederländischer Adeliger, eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Das Porträt zeigt einen wohlhabenden Mann, der eine hohe gesellschaftliche Stellung genossen haben muss.

Die These, es könnte sich gar nicht um das Porträt eines echten Menschen handeln, sondern um eine Allegorie des Heiligen Mauritius, hält sich hartnäckig, sollte aus diesen Gründen aber mit Vorsicht genossen werden, denn auch in ihr steckt eine Menge Bias und wenig Handfestes: Die Darstellung des Mannes weist sehr viele Ähnlichkeiten mit anderen Porträts adeliger und wohlhabender Männer der niederländischen Renaissance auf, aber keinerlei Ähnlichkeit mit Heiligendarstellungen der Epoche. Nicht nur das goldene Schwert, der reich verzierte Geldbeutel, die kostbare, wenn auch altmodische Kleidung, das Pilgerabzeichen und natürlich die erhabene Pose des Modells sind klare Statussymbole der Epoche und die Ähnlichkeit zu anderen Porträts von Jan Mostaert sind frappierend. Welches einflussreiche, wohlhabende Mitglied eines Hofstaats das Porträt zeigt, bleibt ungeklärt, doch eine fiktive Allegorie ist es kaum.


„Zwei Damen im Obstgarten“, ca. 1750, Großbritannien

„Zwei Damen im Obstgarten“, Stephen Slaughter, ca. 1750, Großbritannien

Springen wir in der Zeit ein Stück weiter und vom Kontinent auf die britischen Inseln, landen wir bei den beiden Damen im Obstgarden, die sich ungefähr auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datieren lassen und erst 2020 in einer Privatsammlung aufgetaucht ist: Zuvor hing das Bild jahrzehntelang in einem Herrenhaus im englischen Nottinghamshire. Das Doppelporträt dieser beiden britischen Damen hieß lange Zeit „Dame mit Dienerin“. Noch heute identifiziert das Wadsworth Atheneum, in dem das Gemälde heute ausgestellt wird, die Schwarze Dame als Dienerin. Das macht Stephen Slaughters Damen im Obstgarten zu einem der besten Beispiele für rassistisch gefärbten Bias in der Kunstgeschichte, denn nichts an der Weise, auf die die Dame dargestellt ist, spricht dafür, dass es sich bei ihr um eine Dienerin handeln könnte, wie oft nach einem kurzen Blick auf das Doppelporträt angenommen wird.

Während die weiße Dame eine Robe à l’anglaise aus brauner Seide im damals beliebten pastoralen Stil trägt, passend zur pastoralen Szene im Obstgarten, ist die Schwarze Dame in ein um 1750 hochmodernes Caraco-Ensemble gekleidet. Auch der sogenannte Girandolenschmuck aus hellroten Edelsteinen und Perlentropfen, den die Dame trägt, sowie die kunstvoll verarbeitete Spitze am Ausschnitt und an den Ärmeln weisen die Frau als modisch und kostbar gekleidete Dame aus. Auch hier spricht ihre Haltung Bände: Sie schaut den Betrachtenden erhaben aus dem Halbprofil an, ihre Hand liegt sehr vertraut auf der Schulter der weißen Dame. Ein eigentümliches kleines Detail ist die rote Brosche an ihrem Haarband, die sich am Schürzenband der weißen Frau wiederfindet und auf eine enge Bindung zwischen den beiden Damen hindeutet, die weit über ein Angestelltenverhältnis hinausgeht.

Oft werden die beiden Damen mit Dido Elizabeth Belle und ihrer Cousine Elizabeth Murray verglichen, zwei landadeligen Damen, die im England der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten. Das berühmte Porträt von Dido und Elizabeth weist ein ähnliches Posieren der beiden Damen auf, sowie ein ähnliches Symbol von verwandtschaftlicher Verbundenheit: Hier liegt Elizabeths Hand auf Didos Ellbogen. Tatsächlich liegt ein ähnliches Verwandtschaftsverhältnis wie das zwischen Dido und Elizabeth auch hier nahe, es könnte sich um Cousinen oder gar Schwestern handeln: Schwarze (oder auch indisch-stämmige) Mitglieder britischer Adelsfamilien sind im Zuge des britischen Kolonialismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum noch eine Seltenheit. Die Identität der beiden Frauen ist jedoch nicht geklärt. Eines aber liegt auf der Hand: Um eine Dienerin handelt es sich bei der Dame im schwarzen Caracojäckchen sicherlich nicht.


Exkurs: Komplexe Geschichte(n) und historischer Kontext

Links: „Porträt einer jungen Frau“, unbekannt, ca. 1780 – 1800, niederländisch | Mitte: „Porträt einer jungen Frau“, Sir Henry Raeburn, 1815, schottisch | Rechts: „Porträt eines Mannes, vielleicht Francis Barber“, Sir Joshua Reynolds, ca. 1770, britisch

Ich hoffe, es ist mir gelungen anhand dieser drei Beispiele die gängigen Marker zu erläutern, die helfen People of Colour auf historischer europäischer Kunst richtig einzuordnen, denn längst nicht jede Person of Colour in der europäischen Kunstgeschichte war bedienstet oder gar versklavt. Hier darf jedoch auch ein Exkurs nicht fehlen, der über diese Zuordnungen hinausgeht, denn auch die Geschichte von nicht-weißem Dienstpersonal im historischen Europa ist deutlich komplexer als oft angenommen wird. Eine Unterscheidung zwischen exotisierenden Darstellungen von bediensteten oder versklavten People of Colour als „Statussymbol“, wie ganz oben illustriert, und geschätzten Dienstboten als Begleiter*innen und Vertraute ihrer Arbeitgeber*innen muss zwingend erfolgen. Eine oberflächliche Betrachtung von Dienstpersonal als zwingend gesellschaftlich irrelevant würde die real existierenden Möglichkeiten, die sich auch Bediensteten boten, verschleiern.

Ein berühmtes Beispiel hierfür ist zum Beispiel Francis Barber (oben rechts) der zwar als Diener des britischen Autors Samuel Johnson arbeitete, mit ihm aber so vertraut war, dass er nach seinem Tod sein Vermögen und seinen Nachlass erbte. Barber wurde nach Johnsons Tod ein angesehener Tuchhändler und Kaufmann. Das wohl berühmteste Beispiel ist der zeitgenössisch hoch angesehene Autor, Aktivist und Komponist Ignatius Sancho (1729 – 1780, London), der nicht nur nach seiner Karriere als Bediensteter gesellschaftlich sehr angesehen war, sondern bereits während er als Butler einer Londoner Adelsfamilie arbeitete. Auch Menschen wie Barber oder Sancho werden als angesehene Mitglieder ihrer Gesellschaft porträtiert, die sie nicht vordergründig als „nur Dienstpersonal“ versteht, sondern auch als Freund*innen und Vertraute der Familie, die sich eigenen Ruhm erarbeitet haben.

Darüber hinaus bleibt ein Gespür für den historischen Kontext beim Einordnen von People of Colour in die europäische Kunstgeschichte sehr wichtig: Das Porträt einer jungen Schwarzen Frau oben links zum Beispiel könnte dank diskriminierendem Bias auch einfach als Bildnis einer Dienerin eingeordnet werden. Die kostbare Kleidung der jungen Frau, ihr Perlenhalsschmuck und vor allem ihr Kopfschmuck erzählen im Kontext ihrer Epoche jedoch eine andere Geschichte: Die junge Frau trägt die typische Kopfbedeckung freier Women of Colour, die in der Karibik lebten, entstanden ist das Gemälde wahrscheinlich zwischen 1780 und 1800 in den Niederlanden. Könnte es sich vielleicht um eine vor der Haitianischen Revolution (1791) in die Niederlande geflüchtete Frau handeln? Dass wohlhabende Menschen aus dem ehemaligen Saint-Domingue während der Revolution nach Europa auswanderten, ist historisch belegt.


Abschließendes:

Auch die junge indisch-stämmige Frau auf dem schottischen Porträt von 1815 (oben Mitte) kann über den historischen Kontext von Großbritannien im Regency wenn schon nicht identifiziert, dann aber zumindest sinnvoll interpretiert werden. War die junge Dame, modisch in ein simples weißes Kleid gehüllt und mit langer Perlenkette ausgestattet, eine indisch-stämmige Adelige, wie zum Beispiel Kitty Kirkpatrick, die Tochter eines britischen East India Company Resident und einer indischen Adeligen, die 1805 als kleines Mädchen nach England zog? Kitty Kirkpatrick wurde eine beliebte Gesellschaftsdame und heiratete schließlich einen englischen Adeligen, dessen Familie wiederum ebenfalls Verbindungen nach Indien besaß. Kitty ist nur ein bekanntes Beispiel für viele ähnliche Lebensgeschichten, die weniger gut dokumentiert sind. Könnte die unbekannte Porträtierte also eine ähnliche Geschichte haben? Vielleicht.

Abschließend bleibt zu sagen, dass ein Blick auf People of Colour in der europäischen Kunstgeschichte, der versucht sich vom Bias zu befreien, essentiell ist, um nicht nur verstehen zu lernen, was und vor allem wen diese Gemälde zeigen, sondern auch, um die Geschichtsforschung ein Stück weit abzustauben und die Komplexität von marginalisierter Identität im historischen Europa, die oft geleugnet wurde und wird, zurück ans Tageslicht zu holen. People of Colour existierten im historischen Europa in allen gesellschaftlichen Rollen. Ein informierter Blick auf ihre Darstellungen in der Kunst ihrer Epochen, der historischen Kontext und typische Bildsprache der Epochen einbezieht und nicht von vorn herein auf eine „belanglose“ Identität als Dienstpersonal reduziert, beweist das.

In den letzten zwei Jahrzehnten ist das akademische Interesse an der Geschichte von People of Colour im historischen Europa deutlich gestiegen. Dieses Interesse bringt nicht nur immer neue Erkenntnisse hervor, sondern sorgt auch dafür, dass immer wieder Gemälde von People of Colour aus Privatsammlungen oder aus Museumskellern auftauchen und nicht nur zum ersten Mal in den Blick der Öffentlichkeit geraten, sondern auch analysiert und recherchiert werden. Die Forschung ist im Wandel und was einst, geprägt von diskriminierendem Bias, ein „Porträt einer Dienerin“ war, wird nach und nach deutlich komplexer, informierter und aufschlussreicher aufgearbeitet. Vielleicht erfahren wir irgendwann die wahre Identität der Frau mit der goldenen Uhr, des indisch-britischen Mädchens oder der beiden Damen im Obstgarten. Eines können wir, wenn wir richtig in Bildern lesen, jedoch schon jetzt benennen und das sind die sehr komplexen, diversen sozialen Rollen die People of Colour auch im historischen Europa in allen Gesellschaftsschichten einnahmen.


Mehr zum Thema:

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Quellen und Weiterführendes: 

Dalrymple, William: White Mughals. 2002.

Honeck et al.: Germany and the Black Diaspora. Points of Contact. 1250-1914. 2013.

Lambrechts Cruz, Lisa: Diversity in Art History (Instagram)

Libes, Kenna: Sammlung an Texten zu Kleidergeschichte (Website)

Lowe, Kate [Hg.]: Black Africans in Renaissance Europe. 2005.

Nubia, Onyeka: Africans in Tudor England, their Presence, Status and Origins. 2013.

Square, Jonathan M.: A Prtrait That Survives the Test of Time. 2021.

New York Times: ‘His Name Was Bélizaire’. Rare Portrait of Enslaved Child Arrives at the Met. 2023. (Video)


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Beitragsbild: „Porträt eines Mannes, vielleicht Francis Barber“, Sir Joshua Reynolds, ca. 1770, britisch (Ausschnitt)

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