Die Familiensaga: Ein kritischer Deep Dive in das Trendgenre

Seit einigen Jahren nun ist die Familiensaga vom deutschen Buchmarkt nicht mehr wegzudenken. Einst eher Nischenthema im historischen Roman, hat sich das Genre mittlerweile zum Trendgenre gemausert und findet sich auf Bestsellerlisten, Buchblogs und in unzähligen Bücherregalen wieder. Das Genre richtet sich längst nicht nur an Leser*innen von historischen Romanen, sondern bedient ein deutlich breiteres Publikum: Familiäre Konflikte, dramatische Schicksalsgeschichten und verbotene Liebe interessieren die Menschen bereits, seit es überhaupt Unterhaltungsmedien gibt und auf diesen Bausteinen ruht schließlich das gesamte Genre.

Die historische Familiensaga hat also eine lange Geschichte: Von „Downton Abbey“ (2010-2015) zu „Das Haus am Eaton Place“ (1971-1975) zu „Vom Winde verweht“ (1939) bis zurück zu Familienromanen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Edith Wharton, Louisa May Alcott und Co. Im deutschen Raum ist vor allem Christine Brückners Roman „Jauche und Levkojen“ von 1975 zu nennen, 1978 als Mehrteiler verfilmt, dessen Einfluss auf die moderne deutsche Familiensaga immer spürbar ist. Doch das Saga-Genre, wie es im Jahr 2022 auf dem deutschen Buchmarkt existiert, entwickelt sich schon seit einigen Jahren in eine Richtung, die nicht nur Historiker*innen Sorgen bereitet.


Was macht eine Familiensaga eigentlich aus?

Schaut man sich an mit welchen Buzzwords das Saga-Genre von Verlagen, Autor*innen und Lesenden beworben wird, wird recht schnell deutlich, welche Lesebedürfnisse bedient werden sollen: Es ist die Rede von Generationskonflikten und großen Liebesgeschichten, von Schicksal, und immer wieder von starken Frauen, die im Mittelpunkt stehen und die Geschicke der gesamten Familie leiten. Es wird eine gewisse Epik vermittelt, schon in der Genrebezeichnung der Familiensaga, eine Gewichtigkeit, die nicht grundlos an die Erfolgsgeschichten echter Unternehmerfamilien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und an ihre Tellerwäscher-zum-Millionär-Biografien erinnert.

Die deutsche Familiensaga stellt meist genau das in den Mittelpunkt: Ein Unternehmen und die Familie dahinter, sei es Kaffee-, Schokoladen- oder Teehandel, das eigene Kaufhaus oder die Schneiderei, und den sagenumwobenen, romantisierten Aufstieg aus dem Kleinbürgertum zu Ehre, Ruhm und Reichtum, zu einflussreichen Großgewichten in Politik und Gesellschaft ihrer Epoche. Was im späten 19. Jahrhundert als kleiner Familienbetrieb beginnt, ist im nächsten Band um 1925 zur international gefragten Luxusmarke geworden, droht in den beiden Weltkriegen zu zerbrechen und muss nach 1945 wieder aufgebaut werden, alles getrieben von intelligenten, „starken“ Frauen.

Mittlerweile haben sich längst gewisse Figuren-Archetypen herauskristallisiert, auf die man in beinahe allen Sagas trifft: Der liebende, aber mit der Führung des Unternehmens überforderte Vater. Die strenge, immer auf die Etikette bedachte Mutter. Die feministische, resolute Tochter, allermeist die Protagonistin. Der lebemännische Sohn, der nicht in der Lage ist, das Familiengeschäft zu leiten. Das intrigante Geschwister. Die alte Matriarchin, die im Hintergrund immer noch die Fäden zieht. All diese Archetypen sind nicht erst in den späten 2010er Jahren mit der deutschen Familiensaga entstanden, sondern lassen sich auch schon in Serien wie „Downton Abbey“ feststellen. Im Saga-Genre blühen sie jedoch auf.


Geschichtsbilder: Genrekonventionen und Leseerwartungen

Hier ergeben sich auch schon die ersten Problematiken des Genres, denn die festgefahrenen Konventionen, die sich über die letzten zwei bis drei Jahre nicht aufgelockert, sondern eher zugespitzt haben, lassen wenig Spielraum für Entwicklung zu. Jede Saison erscheinen gleich mehrere neue Reihen, die alle dieselben Klischees, Storylines und Figuren-Archetypen verwenden, und die zudem, und das ist die eigentliche Krux, historische Grenzen ziehen, wo keine sein müssten, gerechtfertigt mit einer „historischen Korrektheit“, die nicht existieren kann. Das Genre hat sich selbst längst in ein tiefes Schlagloch navigiert, aus dem es seinen eigenen, von diesen Klischees und konstruierten Genregrenzen schwer gewordenen Karren nicht herausziehen kann.

Denn diese Grenzen dessen, was das Genre glaubt sein zu können, sind längst auch zu Leseerwartungen bei den Fans der Familiensaga geworden. Das Genre hat ihnen ein recht restriktives Bild der historischen Parameter, in denen die Familiensaga stattfinden kann, vermittelt – und zudem ein ebenso einschränkendes Bild der tatsächlichen Geschichte hinter der Fiktion. Lesende erwarten diese Klischees, weil das Genre sie seit Jahren ohne Abbruch liefert, mittlerweile so fest, dass jeder Versuch sie aufzusprengen negativ wahrgenommen wird, oft gar als „nicht historisch korrekt“. Denn natürlich gaukelt das Genre auch eine gewisse Historizität vor, die nicht wirklich gegeben ist: Historische Fiktion ist immer ein rein fiktives Konstrukt.

Durch die große Masse an Romanen, die genau dieses Bild der Familiensaga-Epoche – Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert – vermitteln, haben sich die kollektiven Geschichtsbilder der Lesenden mittlerweile spürbar verschoben, und das nicht selten in sehr einschränkende, biedere Ideen von historischer Realität. Das ist nicht verwunderlich, denn wer sich über Fiktion hinaus nicht mit Geschichte befasst, geht davon aus, dass das in historischer Fiktion immer und immer wieder gezeigte „historisch authentisch“ sein muss. Doch diese sehr einschränkenden, konstruierten Regeln, nach denen Geschichte in der Familiensaga funktioniert, sind nicht harmlos, nur, weil sie fiktiv sind. Ganz im Gegenteil sind sie sehr kritisch zu sehen.


Geschichte als Kulisse: Nostalgie und Romantisierung

Denn viele dieser Genrekonventionen laufen sehr stringent darauf hinaus, die geschilderte Epoche stark restriktiv darzustellen: Tatsächliche historische gesellschaftliche Konventionen werden deutlich überhöht dargestellt. Während es zum Beispiel stimmt, dass das Studium Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschwert zugänglich war, darf in der typischen Familiensaga keine Frau auch nur ein Universitätsgebäude betreten, bis auf die „starke Frau“, die Protagonistin, die diese Unfreiheit abwirft. Auch ist nicht zu leugnen, dass rassistisches Gedankengut im frühen 20. Jahrhundert normalisiert und weit verbreitet war. Die Familiensaga reproduziert dieses jedoch meist unreflektiert und ohne Verurteilung des Dargestellten.

Doch das ist nur ein Teilaspekt des problematischen Umgangs mit Geschichte, der im Genre so verbreitet ist, denn das Genre betrachtet seine Epoche – circa die Jahre 1900 bis 1950 – durch eine stark romantisierende, nostalgische Linse. Absurd eigentlich, denn wir reden über den schwierigsten Zeitabschnitt der europäischen und vor allem der deutschen Geschichte, der auch in der Geschichtsforschung längst nicht genügend aufgearbeitet ist: Von deutschem Kolonialismus und Imperialismus über den erstarkenden Faschismus bis hin zu beiden Weltkriegen, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist düster, kompliziert, eine unruhige Zeit auf der Schwelle zu unserer Gegenwart.

Die Familiensaga nimmt all das und presst es stark vereinfacht und durchsetzt mit problematischen Mythen zur Rolle der Deutschen im NS-Regime oder im Ersten Weltkrieg in eine Handlung, die ausgerechnet gemütlich sein möchte: Gemütlich, nostalgisch verklärt. Nicht umsonst findet das Genre in einer Epoche statt, die zwar lang genug her ist, um historisch zu wirken, aber nicht lang genug her, dass sie unberührbar und unnahbar wirkt. „Das könnte meiner Oma passiert sein“ scheint die Assoziation zu sein, die aufkommen soll. Die eigenen Vorfahren als Held*innen und mutige Überlebende dieser Epoche, nicht etwa als Wegschauende, Mitlaufende oder gar als Täter*innen, als komplizierte Menschen einer komplizierten Zeit.


Ausblick: Die Familiensaga in den 2020er Jahren

Leider scheinen sich diese Problematiken in den letzten Jahren noch zuzuspitzen. Was vor zwei Jahren noch ungesagt mitschwang, steht mittlerweile schwarz auf weiß in den Büchern und wird weder kritisch hinterfragt noch reflektiert. Beinahe könnte man sagen, das Genre betreibt durch seinen unvorsichtigen, romantisierenden Umgang mit der Vergangenheit Geschichtsrevision auf Textebene. Was es auf jeden Fall tut, ist sehr eingrenzende Bilder davon zu zeichnen, wem diese gemütliche Fantasievergangenheit, in der alles möglich ist, wenn man hart genug arbeitet, offensteht: Seinen „starken“ Heldinnen. Für andere Menschen, spezifisch auch für marginalisierte oder historisch systematisch verfolgte Menschen bleibt diese Traumwelt verschlossen.

Wo stehen wir also, im Jahr 2022? Ich denke, dass das Genre Familiensaga zumindest als Trendgenre langsam aber sicher zur Neige geht. Netflixs „Bridgerton“ (2020-) hat ein erneutes Jane-Austen-Revival ausgelöst und wird sicherlich eine Welle an Regency Romances nach sich ziehen, deren Epoche zwar auch nicht unkritisch ist, aber zumindest sichererer Boden als Deutschland zwischen 1900 und 1950. Auch das jüngere 20. Jahrhundert, besonders die 1960er und 1970er, sind im Kommen. Doch auch, wenn die typische Familiensaga langsam aber sicher an Beliebtheit verlieren wird: Sie hat etwas gemacht mit dem kollektiven Geschichtsbild ihrer Lesenden. Und das wird Spuren hinterlassen.


Beitragsbild: „Die Familie Bromley“, Ford Madox Brown, 1844, britisch (Detail)

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