
Fin de Siècle Gothic: Drei viktorianische Gothic-Klassiker unter der Lupe
Zwischen 2019 und 2021 drehte sich auf meinem damaligen Blog „Zeitfäden“ im September und Oktober alles um Gothic- und Schauerliteratur. Unter den Schlagworten „Schauerherbst“ und „Gothic-Herbst“ habe ich damals nicht nur über die Entstehung des Genres als Sprachrohr für marginalisierte Stimmen im Großbritannien des 18. Jahrhunderts geschrieben, sondern auch über den historischen Kontext von Geister- und Vampirromanen, von der Symbolkraft von Kleidung im Schauer- und Horrorroman und viele weitere Themen. All meine alten Artikel zum Thema könnt ihr jetzt, überarbeitet und aktualisiert, in meiner „Gothic Library“ hier auf „Past & Prologue“ finden. Und natürlich ist meine Auseinandersetzung mit der Schauerliteratur und ihrer Geschichte kein Ding der Vergangenheit.
Ein richtiges Revival des Gothic-Herbsts ist mir dieses Jahr leider aus Zeitgründen nicht möglich, aber die Tradition möchte ich trotzdem endlich fortführen. Dieser Beitrag ist 2022 entstanden und war ursprünglich für den Gothic-Herbst 2022 auf „Zeitfäden“ gedacht, bevor der Hiatus begann. Jetzt habe ich ihn abgestaubt und ein wenig überarbeitet: Denn wie könnte ich besser an meine alte Herbsttradition anknüpfen, als mit dem Artikel, der sie vor zwei Jahren eigentlich fortsetzen sollte? Und jetzt kommen wir endlich, mit zwei Jahren Verzögerung, zu einem meiner liebsten Kapitel der Literaturgeschichte des Schauer- und Horrorromans: Dem späten 19. Jahrhundert. Makaber, dekadent-pessimistisch und düster-romantisch hat besonders das fin de siècle einige legendäre Gothic-Klassiker hervorgebracht, die nicht nur schaurig sind, sondern auch viel über die britische Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu sagen haben.
Perfect Pessimists: Das düster-goldene Fin de Siècle
Doch was macht ausgerechnet diese Literaturepoche so besonders gut geeignet für ein Schauerroman-Revival? Die knapp letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, besonders die 1890er, sind durch eine pessimistische Dekadenz geprägt, die sich unter anderem durch die progressiven sozialen Umbrüche der zweiten Hälfte der Dekade erklären lassen: Besonders die privilegierte „Oberschicht“ sah ihre Gesellschaft auf den Untergang zusteuern und verstand vor allem die sich lockernden Moralvorstellungen der Epoche als Verfall ihrer Werte. Die gutbürgerlichen Ideale, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts großgeschrieben wurden, wurden besonders in Kunst und Literatur in Frage gestellt: Hedonismus und Ästhetizismus, Bohème und Dandytum rebellierten gegen diese eher konservativen Normen und ebneten den Weg in eine zwanglosere Zukunft – Zumindest für einige Jahre.
Hinzu kommen Zukunftsängste , ausgelöst durch eine sich rapide entwickelnde Welt, die nicht nur rasant aufeinanderfolgende gesellschaftliche Veränderungen erlebt, sondern auch in Technik, Wissenschaft und Medizin in großen Sprüngen voran strebt. Diese Ängste, der vermeintliche Zerfall von Moral und Kultur und eine allgemeine Ungewissheit, was die politische Zukunft Europas anbelangt, vermischen sich zu einem Pulverfass, das spätestens zu Beginn des Ersten Weltkriegs tatsächlich explodieren wird. Im Fin de Siècle aber feiern die Menschen noch auf ihren eigenen Untergang zu, den sie als unausweichlich verstehen: Im Kontext zum fin de siècle in Wien wird nicht umsonst von einer „fröhlichen Apokalypse“ gesprochen. Hierbei hat besonders der Jahreswechsel von 1899 auf 1900 eine starke Symbolkraft inne: Das bevorstehende 20. Jahrhundert als neue Chance, aber auch als ungewisse Zukunft.
Unter anderem drückt sich diese pessimistische Dekadenz auch im Grotesken und Unheimlichen aus: Das Fin de Siècle entdeckt zum Beispiel den barocken Vanitas-Gedanken wieder, legt ihn aber nicht als Warnung zu einem moralischen Leben aus, wie es im 17. Jahrhundert der Fall war, sondern stellt sich über diese Angst vor dem Tod und zieht ihn auch ein Stück weit ins Lächerliche: Das Leben soll genossen werden, weil es enden wird, und besonders im Ästhetizismus wird das unkonventionell Schöne hochgehalten und Schönheit im Grotesken oder gar Dämonischen gesucht. Das fin de siècle erfindet das Horrorgenre im modernen Sinne und feiert den eigenen Triumph über den Tod. All das wirkt sich stark auf den Schauerroman der Epoche aus und verhilft ihm zum großen Revival im Fin de Siècle.
„Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde (1891)

Oscar Wildes einziger Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ von 1890, beziehungsweise 1891 ist nicht nur für die Geschichte des britischen Gothic- und Horrorromans bedeutend, sondern auch maßgeblich ein Symbol für diese gesellschaftlichen Umbrüche am Ende des 19. Jahrhunderts. Als Außenseiter, er selbst war Ire, schreibt Wilde über eine zweischneidige englische Gesellschaft, die ihn auf der einen Seite als Literaten feiert und auf der anderen Seite ablehnt und verlacht. Der Roman ist Wilde durch und durch, wie er selbst über die drei Hauptfiguren schrieb: „Basil Hallward is what I think I am; Lord Henry is what the world thinks of me; Dorian is what I would like to be—in other ages, perhaps.“ (dt. „Basil Hallward ist, was ich denke, was ich bin; Lord Henry ist, was die Welt von mir denkt; Dorian ist, was ich gern gewesen wäre – vielleicht in einer anderen Zeit.“
Wilde, als exzentrische Kunstfigur und Hedonist, der nicht in idealisierte Männerbilder passte, geriet nicht nur für seine Kritik an der „gehobenen“ Gesellschaft unter Feuer, sondern vor allem für „Dorian Gray“s LGBTIA+-Inhalte: In der ersten Version des Romans, die 1890 als Fortsetzung im „Lippincott’s Monthly Magazine“ erschien, begnügt sich Wilde nicht mit Andeutungen. Er beschreibt zum Beispiel Basil Hallward als „purely feminine in [his] tenderness“ und lässt ihn zu Dorian sagen: „I have worshipped you with far more romance of feeling than a man usually gives to a friend„. Wilde forderte seine Gesellschaft regelrecht heraus – und verlor.
Wildes explizite Darstellung queerer Männer – und vor allem sein Widerwillen diese queere Identität zu dämonisieren – machten „Dorian Gray“ in den Augen vieler zeitgenössischer Leser_innen zu einem „bösen Buch“, das die Moral der Lesenden korrumpieren könnte. Für die Romanfassung von 1891 wurden diese Textstellen deshalb zensiert, ebenso wie andere Textstellen, die als unmoralisch verstanden wurden: Kritische Kommentare zu gesellschaftlichen Idealen oder auch der Klassengrenzen der Ära. 1895 stand Wilde seiner eigenen Beziehung zu einem Mann wegen vor Gericht. Was folgte war eine Moralpanik sondergleichen, die viele queere Männer zwang aus England zu fliehen.
„Dorian Gray“ ist ein Schauerroman, aber vor allem auch das Lebenswerk eines Hedonisten, der die britische Gesellschaft von außen beobachtet. Er spiegelt die dunkle Dekadenz des Fin de Siècle genauso, wie er seine gefährliche Zweischneidigkeit anprangert. Lord Henry Wotton, der Hedonist, stürzt Dorian, Basil und auch Dorians Verlobte Sybil Vane, ein Symbol für Wildes eigene Werte wie Ehrlichkeit und Schönheit, ins Unheil, in dem er Dorian dazu anstiftet die Konventionen zu brechen – Wotton selbst tut nichts dergleichen und erfährt auch als einziger keine Konsequenzen. Wilde hielt der britischen „Upper Class“ den Spiegel vor und enthüllte ihr oberflächliches, selbstgefälliges Bild von Moral. Und das verzieh sie ihm nicht.
„Das Bildnis des Dorian Gray“ ist u.a. 2012 bei Fischer erschienen. Der Originaltext erschien 1890 als „The Picture of Dorian Gray“ im „Lippinscott’s Monthly Magazine“ und 1891 erweitert und überarbeitet als Roman. Eine unzensierte englischsprachige Ausgabe erschien 2012.
„Dracula“ von Bram Stoker (1897)

Bram Stokers Vampir-Gothic „Dracula“ von 1897 gilt heute zwar nicht als erster, aber als einflussreichster Vampirroman des 19. Jahrhunderts. In diesem Briefroman, der in Briefen, Tagebucheinträgen und dergleichen erzählt ist, steckt aber noch deutlich mehr als das und vor allem eine Menge Kontext zu seiner Entstehungszeit. Mit dem „historischen Dracula“, Vlad Dracul (ca. 1431-1477), hat „Dracula“ tatsächlich deutlich weniger zu tun als mit der Vampirnovelle „Carmilla“ von Sheridan Le Fanu aus dem Jahr 1872 und vor allem der britischen Gesellschaft in den späten 1890er Jahren, den Moralpaniken der Epoche und Bram Stokers eigener Biographie.
Während Stoker „Dracula“ bereits Jahre zuvor plante, begann er den Schreibprozess nach deutlichen Änderungen am Plot und an den Figuren nur einen knappen Monat nach Oscar Wildes Verurteilung 1895. Nicht nur war Stoker ein guter Freund Wildes, sondern sehr wahrscheinlich selbst queer: Die Figur des Grafen Dracula und sein dramatisches Auftreten erinnern wohl nicht umsonst an Stokers viel bewunderten guten Freund, den Schauspieler Henry Irving (1838-1905). „Dracula“ ist ein direktes Produkt der Moralpaniken des Fin de Siècles, ein Einfluss, der zeitgenössischen Leser_innen auch nicht entgangen sein dürfte, und von Stokers Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität.
Auch darüber hinaus steckt in „Dracula“ sehr viel Fin-de-Siècle-Kontext, der sich hier kaum verkürzt wiedergeben lässt: Kontrastierende Frauenbilder der Epoche spiegeln sich in Mina, Lucy und den drei Vampirinnen in Draculas Schloss, wobei Mina als intelligente, eigenständige „New Woman“ deutlich hervorgehoben wird. Auch der xenofeindliche, britisch-imperialistische Blick auf Osteuropa, der im Roman nicht reflektiert wird, spiegelt britisch-viktorianische Ängste einer „umgekehrten Kolonialisierung“ durch andere erstarkende europäische Nationen. Dracula ist nicht nur ein Vampir. Er ist durch und durch „the Other“, das die breite Allgemeinheit im Fin de Siècle fürchtet.
Aus diesem historischen Kontext lässt sich „Dracula“ deshalb auch niemals loslösen. Natürlich steckt „Dracula“ besonders aus heutiger Perspektive voller Problematiken, ist jedoch ebenfalls ein beinahe einzigartiges Porträt der Umbrüche und Moralpaniken des Fin de Siècle, gespiegelt durch Vampirliteratur und geprägt durch Stokers eigene LGBTIA+-Perspektive auf die Zeit unmittelbar nach den Wilde-Prozessen. Einen genaueren Blick auf „Dracula“ und seine Einordnung in den literaturhistorischen Kontext von Vampirgeschichten und -romanen habe ich bereits im Herbst 2021 in „Children of the Night: Eine kurze Geschichte des Vampirromans“ geworfen.
„Dracula“ ist u.a. 2020 bei Reclam erschienen. Der Originaltext erschien 1897 ebenfalls unter dem Titel „Dracula“ in Großbritannien und 1908 als „Dracula: Ein Vampyr-Roman“ erstmals auf deutsch.
„Das Durchdrehen der Schraube“ von Henry James (1898)

„Das Durchdrehen der Schraube“, Henry James‘ Gothic-Horror-Novelle von 1898, ist der wohl schwierigste Roman auf dieser Liste, denn durch James‘ ambivalente Andeutungen und seine Ich-Erzählerin, der man nicht vertrauen kann, besteht bis heute kein Konsens darüber, wovon die Novelle überhaupt handelt. Das Offensichtliche zusammengefasst: Mitte des 19. Jahrhunderts nimmt eine sehr junge Frau eine Stelle als Gouvernante im Herrenhaus Bly an, wohin ein reicher Londoner die Kinder seines verstorbenen Bruders – Miles und Flora – abgeschoben hat. Doch in Bly gehen böse Geister um, vor deren negativem Einfluss sie die beiden Kinder beschützen muss.
Von zeitgenössischen Leser_innen wurde „Das Durchdrehen der Schraube“ vor allem als klassische und gleichzeitig innovative Geistergeschichte aufgefasst, in deren Zentrum die Frage danach steht, was das Böse ausmacht. Gleichzeitig war die Novelle aber in den Augen der Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein großer Tabubruch, denn sie stellt das viktorianische Ideal der Kindheit als unschuldige, verspielte Zeit deutlich in Frage. Die Ich-Erzählerin lernt Miles und Flora, zehn und acht Jahre alt, als liebe Engel kennen – der Inbegriff dieses Kindheitskonzeptes. Doch es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass die Kinder Dinge erlebt haben, die kein Kind erleben sollte.
Was genau in Bly vorfällt und in der Vergangenheit vorgefallen ist, bleibt absichtlich vage, wie Henry James im Vorwort auch erklärt, ein in der Horrorliteratur bis heute beliebtes Konzept, da die eigenen Vermutungen und Verdächte der Leser_innen oft unheimlicher sind als klare Antworten vonseiten der Autor_innen. Dieses Konzept treibt Henry James auf die Spitze: Alle Figuren, selbst die Kinder, können gleichzeitig gut und böse sein, oder eben irgendetwas dazwischen, je nachdem, wie man die Geschichte auslegt. Und das macht die Novelle, gemeinsam mit James‘ barocker Sprache und der düsteren Atmosphäre so dicht, dass sie beinahe bedrängend wirkt.
Im Kern ist „Das Durchdrehen der Schraube“ eine psychologische Geistergeschichte, die ihren Horror aus ihrer bewussten Ambivalenz zieht, aber auch aus sehr realen Missständen wie der viktorianischen Klassengesellschaft, aus der Andeutung von Kindesmissbrauch, und vor allem aus alten Traumata, die nicht verarbeitet werden können, weil sie im viktorianischen Alltag totgeschwiegen werden. Am Ende wird unklar bleiben, was genau Henry James sich beim Schreiben gedacht hat und genau so wollte er es auch, wie er 1908 schrieb: „Make [the reader] think the evil, make him think it for himself, and you are released from weak specifications.“ (dt. „Lass [die Lesenden] das Böse denken, lass [sie] es sich selbst vorstellen, und du bist von schwachen Beschreibungen befreit.„)
„Das Durchdrehen der Schraube“ ist u.a. 2015 bei dtv erschienen. Der Originaltext „The Turn of the Screw“ erschien erstmals 1898 als Fortsetzungsroman im US-amerikanischen Magazin „Collier’s Weekly“.
Beitragsbild: „Besuch in der Spukkammer“, William Frederick Yeames, 1869, britisch (Ausschnitt)