Was kann Geschichte?: Die (R)Evolution eines Genres

Während das Konzept des Historienromans in anderen Teilen der Welt, besonders in Ostasien, schon seit der Antike bekannt ist, wird in der westlichen Literaturgeschichte der Roman „La Princesse de Clèves“, 1678 von der französischen Adeligen Madame de La Fayette veröffentlicht, als erster Historienroman im modernen Sinne verstanden. Lafayette entführt in ihrem Roman an den französischen Hof in der Mitte des 16. Jahrhunderts und berichtet, mithilfe erhaltener Dokumente akribisch recherchiert, von Skandalen, Intrigen und Affären. Sie begeisterte die Lesenden durch emotionale Tiefe, die realistische Handlung und den komplexen Aufbau ihres Romans.

Seine erste große Blütezeit erlebte der historische Roman jedoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Laufe der Epoche der Romantik: Nach den blutigen Kriegen und Revolutionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wuchs in den Menschen ein beinahe sehnsüchtiges Interesse an Geschichte, das sich nicht nur in Literatur und Kunst äußerte, sondern auch im neuen Verständnis für die Geschichtswissenschaft und den Erhalt von historischem Kulturgut. Neben den berühmten historischen Abenteuerromanen von Sir Walter Scott und Alexandre Dumas ist der historische Roman in dieser Zeit beinahe immer auch ein Medium, das sich kritisch mit der zeitgenössischen Gesellschaft beschäftigt.


Vom historischen Dokument zum Historienepos

Eines haben heutige Lesende von Historienromanen mit denen vergangener Zeiten sicherlich gemein: Wir alle sind fasziniert von vergangener Zeit, die für uns abstrakt und unberührbar geworden ist, denn manche Dinge ändern sich nie. Ähnlich wie schon „Waverley“ von Sir Walter Scott 1814 großes Interesse an der schottischen Geschichte und den Jakobitenaufständen auslöste, tut das auch seit 1991 Diana Gabaldons „Outlander“-Reihe, mittlerweile als bildgewaltige Historienserie verfilmt. Trotzdem hat sich das Genre in den über drei Jahrhunderten seit der „Princesse de Clèves“ stetig verändert, zum Guten, aber auch immer wieder in kritischere Richtungen.

Der Wandel der historischen Fiktion, die zu Beginn beinahe immer als sozialkritischer Spiegel der eigenen Epoche genutzt wurde, so auch bereits in „La Princesse de Clèves“, zur Trivialliteratur ist nichts Neues und auch an sich nichts Verwerfliches. Bereits im 19. Jahrhundert existierten bereits Historienromane, die bloß unterhalten sollten. Als großer Einschnitt gilt jedoch der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918, der das soziale Gefüge Europas von Grund auf veränderte und einen Keil zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlug: Die größte Tragödie, die Europa jemals erlebt hatte, ließ sich nicht mehr mithilfe von historischen Symbolen und Allegorien aufarbeiten.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschiebt sich, was die historische Fiktion überhaupt sein soll und möchte: Hatte man zuvor Antworten auf soziale Fragen der eigenen Gegenwart in der Vergangenheit gesucht und den historischen Roman als „historisch korrektes“ Dokument für historische Ereignisse verstanden, rückte nun seine reine Erzählkraft in den Vordergrund. Figuren, Handlung und psychologische und emotionale Tiefe wurden als wichtiger erachtet als authentisch geschilderte historische Hintergründe. So schrieb Emil Ludwig (1881-1948) recht passend: „[…]dass die Geschichte eines großen Herzen bedeutungsvoller ist als die Veränderung einer Spezialkarte zwischen 1790-1810.“


Metafiktion: Der inhärente Konflikt der historischen Fiktion

An sich ist diese Entwicklung weg vom Anspruch auf „historische Korrektheit“ und hin zum einfühlsamen Roman, der vordergründig von Menschen handelt, eine sehr positive, auch unter dem Standpunkt, wie oft der historische Roman im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Werkzeug für faschistische Propaganda missbraucht wurde. Eine national-patriotische Verklärung und Überhöhung der „eigenen Geschichte“ entwickelt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zum Kern historischer Erzählungen, manchmal kritisch umgesetzt, oft jedoch als Rechtfertigung und Validierung eigener politischer Überzeugungen und von Unterdrückung.

1988 prägte die kanadische Literaturwissenschaftlerin Linda Hutcheon den Begriff der „Historiografischen Metafiktion“ als Gegenpol zum klassischen Historienroman. Die Metafiktion setzt sich gezielt mit ihrer eigenen Existenz als konstruierte Fiktion auseinander, die historiografische Metafiktion geht einen Schritt weiter und sagt: Jede Form von historischer Fiktion ist konstruiert und kann deshalb keinen Anspruch auf historische „Korrektheit“ haben. Diese Herangehensweise an historische Fiktion hebt hervor, dass es keine eine historische Wahrheit gibt, sondern alles von Perspektiven, Blickwinkeln und Bias der Agierenden und Erzählenden abhängig ist.

Bis heute klammern sich viele Autor*innen an die Idee einer „historischen Korrektheit“, die von der historiografischen Metafiktion jetzt seit knapp fünfunddreißig Jahren ad absurdum geführt wird, denn natürlich gibt es keinen objektiven Blick auf komplexe Geschichte, natürlich ist das Erzählte immer viel eher ein Spiegel der Überzeugungen der Erzählenden als der tatsächlichen historischen Epoche. Deshalb ist die historiografische Metafiktion ein wunderbares Werkzeug, um neu zu definieren, was „historisch authentisch“ ist, um neue Blickwinkel und Perspektiven auf Geschichte zu ermöglichen und vor allem auch um lange unterdrückte Geschichte wieder sichtbar zu machen.


Der Historienroman im 21. Jahrhundert

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich erneut ein Wandel im historischen Roman beobachten. In den ersten zwei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts nahm die Beliebtheit der historischen Fiktion stetig zu: Autor*innen wie Hilary Mantel („Wölfe“) oder Ken Follett („Die Säulen der Erde“) knüpfen da an, wo bereits Madame de La Fayette 1678 angesetzt hat: Sie schreiben akribisch recherchierte Historienromane, in denen es vor historischen „Fakten“ und Persönlichkeiten nur so wimmelt, oft jedoch kombiniert mit der emotionaleren Herangehensweise des frühen 20. Jahrhunderts, bei der im Stil von Emil Ludwig fiktive, emotional aufgeladene Biografien erzählt werden.

Schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kristallisierten sich jedoch ein paar Klischees heraus, die im Genre mittlerweile als unumstößliche historische Wahrheiten gelten und sich auch in den bestrecherchiertesten Romanen wiederfinden. Sexualisierte Gewalt, Rassismus, LGBTIA-Feindlichkeit und andere Formen von Missbrauch und Unterdrückung sind ein Muss im Genre und werden nicht selten von Schreibenden und Lesenden als „historisch korrekt“ verteidigt, was in Anbetracht der Theorien, die die historiografische Metafiktion aufgestellt hat („Es gibt keine eine historische Wahrheit“) all seinen argumentativen Wert verliert.

Mein persönlicher Eindruck ist, dass wir uns seit ein paar Jahren auf einem kritischen Rückwärtskurs befinden, bei dem die vermeintliche „historische Korrektheit“ eines Textes über seinen erzählerischen Wert und seine Aussage für uns als moderne Lesende gestellt wird. So wird zum Beispiel die Darstellung von als „historisch korrekt“ verstandener Diskriminierung als wertvoller erachtet als eine klare Positionierung gegen Diskriminierung: Was fehlt, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz als Fiktion. Mehr und mehr wird der historische Roman wieder als eine Art Quellendokument verstanden, das eine klare historische Wirklichkeit abzubilden hat, und nicht als fiktive Geschichte und Medium, das diesem Anspruch niemals gerecht werden kann.

Dabei geht komplett verloren, dass hinter historischen Romanen nicht nur Schreibende stecken, durch deren Bias, Weltanschauung und Geschichtsverständnis das Erzählte gefiltert wird, sondern auch die Autor*innen der Sekundärliteratur und Primärquellen, die zur Recherche verwendet wurden. Historische Fiktion ist am Ende nie eine neutrale, objektive Darstellung von Geschichte, sondern das Ergebnis der Vermengung von dutzenden Perspektiven, Ideen und Blickwinkeln auf Geschichte, die am Ende zu allem Überdruss auch noch durch die Linse der Lesenden gefiltert und noch einmal neu ausgelegt und verstanden wird.


(R)Evolution: Geschichte schreiben, nicht nacherzählen

Mit „historischer Korrektheit“ hat das natürlich gar nichts mehr zu tun, sondern viel mehr mit unserem kollektiven Geschichtsbild im frühen 21. Jahrhundert, das von historischer und moderner systematischer Diskriminierung gezeichnet ist und ungehindert in diese Romane fließen kann, weil es nicht hinterfragt wird. „So war das damals eben“. Dabei müsste es viel eher heißen: „So denken wir war das damals“. Und das sollte uns zu der Frage führen, wieso wir so sehr darauf bestehen, dass es „so“ war und nicht anders und warum wir die historische Fiktion in so enge Muster pressen, wenn sie eines der vielfältigsten, interessantesten Genres sein könnte.

Ich persönlich hoffe zum Jahresbeginn 2022, dass es uns gelingen wird davon deutlich Abstand zu nehmen und dem Genre endlich die Scheuklappen abzunehmen, denn es kann so viel mehr als altbackene Ideen der einen historischen Wirklichkeit immer und immer wieder zu spiegeln. Die historische Fiktion in Europa und Nordamerika ist immer in Bewegung, seit dem 17. Jahrhundert, und es wäre Zeit für eine kleine Revolution. Wir müssen das, was wir für „historische Korrektheit“ halten, außen vor lassen, quellenkritisch recherchieren aber auch Mut zur Lücke beweisen und uns vor allem immer wieder daran erinnern, dass Geschichte niemals neutral oder objektiv sein kann.

Geschichte ist ein Kaleidoskop aus Milliarden von Menschen, Ereignissen, Blickwinkeln und Perspektiven und das ist es, was die historische Fiktion spiegeln sollte. Ich vermisse historische Romane, die mir etwas zu sagen haben, über eine bloße Abbildung dessen, was die Schreibenden für „historisch korrekt“ halten hinaus. Historische Romane, die einen intelligenten, progressiven Blick auf unsere Gegenwart werfen. Historische Romane, die sich von all dem befreien, was mit „Damals ging sowas aber nicht!“ betitelt wird, und spannende Geschichten erzählen. Ich hoffe auf eine Rückkehr der Metafiktion ins Genre, die sich selbst reflektiert und konstruiert und einen Blick über einschränkende Ideen von „historischer Korrektheit“ und Genre-Konventionen hinaus erlaubt.


In diesem Beitrag steckt viel Arbeit, Zeit und Recherche. Falls er dir bei deinen eigenen Recherchen weitergeholfen hat, würde ich mich über eine Nennung als Quelle freuen.


Mehr zum Thema:

Geppert, Hans Vilmar: Der historische Roman. Geschichte umerzählt. Von Walter Scott bis zur Gegenwart. (2009)

Hutcheon, Linda: Historiographic Metafiction. Parody and the Intertextuality of History. In: O’Donnell, P./ Davis, R.: Intertextuality and Contemporary American Fiction. S. 3 – 32. (1989)

Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. (1995)

Potthast, Barbara: Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert. (2007)


Beitragsbild: „Frau im blauen Kleid“, Gonzales Coques, ca. 1645-1660, flämisch (Detail)

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