
„Isabella“ und „Bridgerton“: Es geht nicht um historische Authentizität
In den letzten paar Jahren werden in Historienserien und -filmen immer öfter auch Hauptrollen mit nicht-weißen Schauspielenden besetzt, zum Beispiel in „The Great“ (2020). Für einige Zuschauende scheint dies jedoch ein Problem darzustellen, denn online toben besonders in letzter Zeit jedes Mal Diskussionen rund um eine „historische Korrektheit“, die People of Colour im historischen Europa angeblich nicht zulässt, in die sich auch immer öfter große Medienoutlets einmischen. Jetzt hat es Netflixs neues Regencydrama „Bridgerton“ getroffen, das Ende 2020 auf der Streamingplattform angelaufen ist. In „Bridgerton“ wurde der begehrteste Junggeselle Londons – Simon Bassett, Duke of Hastings – mit einem Schwarzen Schauspieler besetzt: Dem simbabwisch-britischen Regé-Jean Page.
Ganz generell setzt „Bridgerton“ ein Statement und besetzt den Hochadel Englands des frühen 19. Jahrhunderts „colour blind“, unter anderem auch die regierende Königin Charlotte, die von Golda Rosheuvel gespielt wird. Den Verfechter_innen der „historischen Korrektheit“ geht das entschieden zu weit. Denn, so lautet die allgemeine Meinung, BIPoC (das steht für Black, Indigenous, and people of color) „passen nicht“ in ein historisches Europa, weil es sie im historischen Europa doch gar nicht gab und wenn doch, dann höchstens als Bedienstete. Es ist nicht mein Begehr, mit diesem Artikel das Gegenteil zu beweisen, denn hinter diesen Aussagen steckt selten wirklich harmloses Unwissen, sondern meistens eine festgefahrene Meinung und ein Festhalten an längst überholten Geschichtsbildern.
Interpretation und Bias: Es gibt keine historische „Korrektheit“
Es gibt keine „historische Korrektheit“. Hier müssen wir beginnen. Es kann eine „historische Authentizität“ geben: So hätte es vielleicht gewesen sein können, diese Darstellung wirkt plausibel. Aber ein „Genau so und nicht anders war es“, das ist nicht möglich. Das, was wir unter „Geschichte“ verstehen, sind keine in Stein gemeißelten, unumstößlichen Fakten. Viel eher ist die Geschichtsforschung eine Anhäufung von gängigen Interpretationen dessen, was vielleicht einst gewesen sein könnte. Diese Interpretationen sind stetigem Wandel unterzogen, denn die Forschung schläft nicht. Wenn neue Quellen, Belege oder Artefakte entdeckt werden, wenn neue Perspektiven eröffnet werden, können sie die Geschichtsforschung in ganz neue Richtungen lenken. Denn „historische Fakten“ haben sich niemals von allein herausgefunden und aufgeschrieben. Dahinter stehen immer Menschen.
Menschen sind selten objektiv und müssen es auch nicht zwingend sein. Wer wir sind, was wir denken und wie wir die Welt sehen beeinflusst unser Verständnis und unsere Interpretationen von Geschichte stark. Das nennt man den Bias. Dieser Bias wirkt sich maßgeblich darauf auf, wie wir bestimmte historische Zusammenhänge verstehen und interpretieren. Das ist nicht vermeidbar. Doch in einer Gesellschaft, in der systematische Diskriminierung existiert, gibt es deshalb zwingend auch Forscher_innen, die bewusst und unbewusst von diesen diskriminierenden Ideen beeinflusst Thesen und Interpretationen zu Geschichte entwerfen. Wer zum Beispiel selbst rassistisches Gedankengut verinnerlicht hat, wird dieses sehr wahrscheinlich in seine Interpretationen einfließen lassen. Der Bias wirkt sich darauf auf, wie historische Quellen ausgewertet und interpretiert werden.
Das, was für „historisch korrekt“ gehalten wird, ist am Ende meist die beliebteste Interpretation eines historischen Umstands, die sich durchgesetzt hat. Nicht immer ist sie gängige These: Was im „Mainstream“ mit Argumenten wie „Das weiß man doch!“ als historische Wahrheit verstanden wird, wird von Historiker_innen nicht selten als längst überholte These von 1952 erkannt, die in den 70 Jahren seitdem unzählige Male widerlegt wurde. Viel historisches „Allgemeinwissen“, das noch heute durch historische Medien wandert, stammt aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert und ist manchmal durch zeitgenössische Diskriminierung geprägt. Diese Problematik greift besonders was die Aufarbeitung von marginalisierter Geschichte angeht, die bis weit ins 20. Jahrhundert aufgrund von diskriminierendem Bias als weniger wichtig und zu vernachlässigen eingestuft wurde.
Welche historischen Felder recherchiert werden, welche Artefakte konserviert werden, worüber geforscht wird und worüber nicht, das unterliegt Menschen, Historiker_innen, die einen Bias haben, der sich auf ihre Entscheidungen auswirkt. Deshalb wird zum Beispiel die Geschichte des nicht-weißen Bürgertums und Adels im Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts im großen Stil erst seit kurzer Zeit erforscht. Die Belege und Quellen waren, falls nicht sogar vernichtet, immer da. Doch dass sie ausgewertet, interpretiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten, war bis vor wenigen Jahrzehnten keine Priorität. Neue Stimmen und Perspektiven in der Forschung rücken durch ihre Arbeit diese Themen nach und nach in den Fokus. Dieser Wandel, der sich in der Geschichtswissenschaft vollzieht, vollzieht sich gleichzeitig auch in der Popkultur. Und damit sind wir wieder bei „Bridgerton“.
Isabella: Die Rekonstruktion eines Mädchenlebens

Im Rijksmuseum in Amsterdam wird ein Porträt eines jungen Mädchens aufbewahrt, das längste Zeit nur als „Orientalisches Mädchen“, „Mädchen von den East Indies“ oder „Junge Frau mit Fächer“ bekannt war. Es zeigt ein etwa 12-jähriges Mädchen in einem prächtigen Kleid und einer Strohhaube, die in einem Holzstuhl sitzt und die Betrachtenden anlächelt. Sie hält einen bunten Fächer. Das „Mädchen von den East Indies“ hat viele Interpretationen durchlaufen und hieß bis 2015 sogar „Junge N****-Frau“, bis eine antirassistische Kampagne des Museums dazu führte, dass über 200.000 Titel und Bildbeschreibungen geändert wurden, um rassistische Begriffe zu vermeiden. Auch hier war der Aufschrei groß: Man müsse den historischen Kontext doch bewahren, die alten Titel seien einfach „historisch korrekt“. Dass der Maler Simon Maris sein Bild 1906 jedoch weder „Junge N****-Frau“, noch „Mädchen von den East Indies“ genannt hatte, spielte kaum eine Rolle.
Die Kunsthistorikerin Lisa Lambrechts Cruz arbeitete sich vor kurzem durch den Nachlass des Malers, der in Amsterdam aufbewahrt wird, und entdeckte nicht nur Skizzen für das Porträt, sondern auch Fotos des jungen Mädchens und Notizen und Briefe von Simon Maris, die Aufschluss gaben: Ihr Name war Isabella und sie war 1906, als sie für das Porträt Modell saß, 12 Jahre alt. Simon Maris nannte ihr Porträt schlichtweg „Isabella“. Seit das neue Forschungsinteresse an Isabella erwacht ist, sind weitere Porträts von ihr aufgetaucht, unter anderem in Privatbesitz. Isabella ist ein gutes Beispiel dafür, wie Name und Identität eines Schwarzen Mädchens, obwohl in Quellen und Belegen festgehalten, über ein Jahrhundert lang aus Desinteresse an ihrer Geschichte unsichtbar wurden. Erst neues Interesse und vor allem ein Shift in der Sensibilisierung für diskriminierende Faktoren in der Geschichtsforschung haben Isabella zurück in das öffentliche Bewusstsein geholt.
Im Kontext zu Simon Maris‘ Arbeit, die größtenteils Porträts von Frauen und Kindern umfassen, sind Lambrechts Cruz‘ Forschungen zu „Isabella“ nicht nur wichtig, um Isabellas Identität und Individualität als reales Mädchen, das um 1900 in den Niederlanden lebte, zurück ans Licht zu holen, sondern natürlich auch im Kontext zum Leben von BIPoC im historischen Europa im Allgemeinen. Auf ihrem Porträt wurde Isabella als namenlose, „orientalische“ junge Frau identifiziert. Auf den Fotos aus Maris‘ Atelier ist sie ein lachendes, verspieltes Kind, vielleicht die Tochter von Bekannten des Malers oder ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Wer Isabella tatsächlich war, bleibt jedoch erst einmal ein Geheimnis, da ihr Nachname nicht überliefert ist, was weitere Recherchen erschwert. Doch vielleicht können weitere Funde in der Zukunft das Geheimnis ihrer Identität lüften?
Das augenscheinliche Fehlen von Quellen und Belegen ist also niemals ein Beweis dafür, dass bestimmte marginalisierte Gruppen im historischen Europa nicht Teil des alltäglichen Lebens waren. Nicht selten fehlen diese Quellen bewusst, da hier diskriminierende Muster greifen. Oft gehen Quellen aus Desinteresse verloren, wie in Isabellas Fall. Doch wer zielstrebig nachforscht, den eigenen Bias hinterfragt und eine offene Perspektive auf Geschichte mitbringt, kann fündig werden. Nicht immer gelingt dies jedoch. Was von vorn herein nicht als wichtig genug erachtet wurde, um es überhaupt aufzuschreiben oder aufzuheben, kann auch nicht wiederentdeckt werden. Viele dieser Geschichten sind verloren gegangen und die Leben von BIPoC im historischen Europa, die nicht in die akzeptierte Narrative von Bediensteten und Sklav_innen passten, unsichtbar geworden.
Was ist europäische Geschichte?: Historische „Korrektheit“ und Anspruchsdenken
Mit diesen Informationen im Hinterkopf ist es unangenehm mit anzusehen, wie sich online auf der Basis von „historischer Korrektheit“ so vehement gegen einen Schwarzen Duke of Hastings gewährt wird. Am Ende geht es, wie so oft, nicht wirklich um eine vermeintliche historische „Korrektheit“, oder auch nur um historische Authentizität. Ein Schwarzer Adeliger im England des frühen 19. Jahrhunderts ist authentisch in der Bedeutung, dass es absolut möglich gewesen wäre und auch vorgekommen ist. Dido Elizabeth Belle (1761 – 1804) war eine Schwarze britische Landadelige, Kitty Kirkpatrick (1802 – 1889) eine englisch-indische Adelige, genau wie die Feministin und Aktivistin Sophia Duleep Singh (1876 – 1948). Aina, später Sara Forbes Bonetta (1843 – 1880) war eine in England lebende Yewa-Adelige, Patentochter von Königin Victoria und später Ehefrau des wohlhabenden Yoruba-Geschäftsmannes James Pinson Labulo Davies, der auch in England tätig war.
Es geht jedoch nicht darum, ein tatsächlich historisches authentisches Bild der durchaus multikulturellen britischen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert zu spiegeln. Es geht, und dies geschieht bewusst und unbewusst, um das Zementieren einer gewissen Macht. Wem gehört eigentlich europäische Geschichte? Wer hat ein Anrecht darauf, sich in ihr repräsentiert und validiert zu sehen? Die Wiederentdeckung von nicht-weißer Geschichte in Europa sollte für uns alle eine Bereicherung darstellen. Wenn aber das Anspruchsdenken greift, das oft rassistisch gefärbt ist, dann sieht es so aus, als würde „uns“ etwas weggenommen, wenn einer der zahlreichen Adeligen in einer Regency-Serie nicht von einem weißen Schauspieler verkörpert wird. „Das ist doch unsere Geschichte“, liest man, und: „Das passt nicht“. Das einzige, das in dieser Situation jedoch tatsächlich unpassend ist, ist dieses Geschichtsbild im Jahr 2021.
Denn hier wird tatsächlich niemandem etwas weggenommen. Viel eher wird marginalisierten Menschen etwas zurückgegeben, beziehungsweise: Sie nehmen sich etwas zurück. Ihre historische Identität und Selbstbestimmung auf der einen Seite, die nicht länger nur über ihre Diskriminierung von außen definiert wird, aber auch etwas ebenso Wertvolles: Repräsentation in modernen Popkulturmedien. Denn abseits von allen Diskussionen über historische „Korrektheit“ und Authentizität, sind Historienserien nicht für historische Menschen gemacht, sondern von modernen Menschen für moderne Menschen. Ob der Duke of Hastings in „Bridgerton“ gute Repräsentation ist, kann ich nicht beurteilen. Doch seine Daseinsberechtigung als nicht-weiße Figur in einem Stück historischer Popkultur ist nicht anzufechten. Er existiert für moderne BIPoC, die sich endlich in historischen Medien gespiegelt sehen, doch er existiert ebenso für Menschen wie Isabella, deren bloße Existenz im historischen Europa bis heute angezweifelt und unsichtbar gemacht wird.
Mehr zum Thema:
Lisa Lambrechts: From Young Woman with a Fan to Isabella. A Rediscovered Identity. The Rijksmuseum Bulletin, Vol.68, No.2, 2020.
Geekgeflüster: „Bridgerton“ und Zombies. 03.01.2021.
Beitragsbild: „Isabella“, Simon Maris, ca. 1906 (Ausschnitt)